2
Denk nicht an so etwas wie Liebe, ein Zuhause, an den Körper einer Frau, und sei nicht so blöd, auf Gerechtigkeit zu hoffen … Nichts davon wird dir hier etwas nützen. Du musst etwas finden, das du hassen kannst.«
Dem alten Häftling, der Revol Rossel am ersten Tag in Igarka diesen weisen Rat gegeben hatte, war schon vor längerer Zeit die Kehle aufgeschlitzt worden.
Der blöde Kerl hat sich nicht mal an seinen eigenen Rat gehalten …
Rossel schon. Buchstabengetreu.
Etwas, das du hassen kannst.
Jetzt gerade, verdammte Scheiße, war es dieser Kieselstein, der sich vorne in seinem linken Stiefel irgendwie festgesetzt hatte.
Der frühere Leutnant der Volksmiliz und fünf andere Männer in Ketten mühten sich wie Arbeitspferde, eine riesige Trommel voller Schutt und Geröll durch den Schnee Sibiriens zu zerren, jeder Schritt eine Qual. Drei Gefangene vor der Trommel, die wie eine gigantische Garnspule aussah, zogen, während die drei dahinter schoben. Ihre Augen schmerzten, die gefrorenen Härchen in der Nase stachen sie wie Miniatureiszapfen, der Atem zersplitterte in eine Million Kristalle, sobald sie Luft ausstießen. Bei jedem Arbeitsgang mit dieser primitiven Dampfwalze ebneten sie, Meter für Meter, den Boden für die Schwellen und Gleise, die für die Bahnstrecke von Igarka nach Salechard verlegt wurden.
Die kompletten eintausenddreihundert Kilometer.
Das Leben in einem Arbeitslager unter der Zuständigkeit des GULag, derHauptverwaltung Lager, legte die Schichten der menschlichen Existenz bloß. Ließ dich mit fast nichts zurück. Als würde ein böswilliger slawischer Gott mit Schmirgelpapier immer die gleiche winzige Stelle auf deinem Schädel bearbeiten, um herauszufinden, was dort zum Vorschein kam. Normalerweise war es der Hunger. Weil der Hunger allmählich alles verkörperte, was dich ausmachte.
»Lasst uns ein Gebet zusammen sprechen«, schlug Babajan vor, der vollbärtige Priester mit den messianischen, hellblauen Augen, der rechts neben Rossel an der Walze zog.
»Nicht schon wieder ein Gebet! Mach endlich mal Pause damit, du alter armenischer Schwachkopf«, schrie jemand.
Links neben ihm mühte sich – spindeldürr und bleich wie der Permafrost – Alexander Wustin. Ein Sänger, ein Bariton aus der Stalingrader Oper, ein durchaus angesehener, frühreifer Komponist, den man, wie so viele andere »Politische« in den Lagern, zum Volksfeind erklärt hatte.
Zehn lange Monate war Rossel nun schon im Lagersystem des Gulag verschwunden. Zwei Monate davon unterwegs in den hohen Norden, mit dem Zug, auf der Straße und per Schiff. Acht Monate in der Strafkolonie, die so neu war und so weit entfernt von allem lag, dass sie einfach nur Kilometer105 hieß. So weit war es bis nach Igarka. In dieser Zeit hatte er mit Wustin mehr Gespräche über Musik geführt als je zuvor in seinem Leben mit irgendjemand anderem. Was die Russen anging, so sei Schostakowitsch zwar gut, Prokofjew aber viel besser, hatte Wustin verkündet. Rachmaninow sei manchmal kitschig, manchmal großartig, meistens gefällig. Strawinsky sei das wahre Genie, während Chatschaturjan ihn und auch alle anderen mal am Arsch lecken könne. Rossel war geneigt, ihm zuzustimmen.
»Bis Prokofjew die Nerven verlor und sich Sorgen darüber machte, was die Partei wohl von seiner Musik hielt«, hatte Wustin gesagt und dabei so gezittert, dass er seine selbst gedrehte Zigarette kaum an die Lippen führen konnte. »Danach war erD