– STAGE 00 –

Opening Sequence

1stPersonCam: THÉO

Location: THE FINAL STRAIGHT

»Lauf, Théo!«

Théo läuft. So schnell wie vielleicht noch nie in seinem Leben. Hinter ihm erlöschen die grellbunten Lichtröhren, die den fensterlosen Gang erhellt haben, eine nach der anderen. Vor ihm blockiert Bolts breite Gestalt die Fahrstuhltür, hält sie geöffnet – für ihn. Bläuliche Blitze umspielen die massiven Schultern, fließen über die muskulöse Brust unter dem zerrissenen Shirt und beleuchten zuckend das markante Gesicht des Mannes, der sich selbst Donnergott nennt. Wenn Théo ihn erreicht, ehe die Dunkelheit ihn einholt, hat er es geschafft. Und Miramis, im anderen Fahrstuhl, am anderen Ende des Flurs, wird fallen.

Er hört sie seinen Namen rufen. Aber Théo sieht nicht noch einmal zurück. Nur zwei von ihnen können die nächste Stage erreichen. Er und Bolt. Er und Miramis. Oder Bolt und Miramis, wenn er sich von der Dunkelheit erwischen lässt.

Er hat seine Entscheidung längst getroffen.

»Lauf, verdammt!«, brüllt Bolt.

Aber die Dunkelheit ist zu nah. Er wird es nicht schaffen, egal wie schnell er rennt. DasGAME will nicht, dass er schon wieder gewinnt.

»SPRING!«

Bolt streckt die Hand nach ihm aus, und Théo springt. Kräftige Finger schließen sich um sein Handgelenk und reißen ihn nach vorn, in den Fahrstuhl hinein. Im letzten Moment.

Ein Schrei zerreißt die Schwärze. In der Ferne, im hellbunt leuchtenden Rechteck der anderen Tür, stürzt Miramis’ Silhouette zu Boden wie eine Marionette, deren Fäden durchschnitten wurden – das sehen sie noch, ehe das Licht verlischt und die Türen sich schließen.GAME OVER.

»Gut«, murmelt Bolt heiser. »Gut gemacht, Kleiner.«

Sekundenlang ist es dunkel und still, bis auf ihrer beider schweren Atem. Dann leuchten die bunten Neonröhren an der Wand der kleinen Kabine wieder auf, und der Fahrstuhl setzt sich mit einem leichten Ruck in Bewegung. Aufwärts, dem Dach entgegen. Doch sie werden nicht dort ankommen. Nicht zusammen. Das weiß Théo, und das weiß auch Bolt, aber sie sprechen es nicht aus, als könnten sie so das Unausweichliche aufhalten – bis der Fahrstuhl plötzlich mitten im Nichts erneut stoppt.

»Herzlichen Glückwunsch, Théo und Bolt. Ihr habtSTAGE05. Endgame erreicht. Dies ist eure letzte Aufgabe: Die Tür in der Decke der Kabine wurde entriegelt. Doch nur einer von euch wird sie durchqueren und den TitelCHAMPION SUCCESSORerringen. Alle Mittel sind erlaubt. Sobald der zukünftige Successor die Kabine verlassen hat, wird der letzte Contender fallen.«

Théo und Bolt sehen sich durch das kühlbunte Licht an. Gemeinsam sind sie so weit gekommen. Weiter, als einer von ihnen es je allein geschafft hätte. In diesem Spiel erreicht man das Finale nur mit loyalen Verbündeten. So loyal, dass sie sich am Ende für dich opfern. Seit vier Jahren ist das Théos Weg zum Sieg, und nun ist auch in dieser Runde der Augenblick gekommen, in dem sich herausstellt, ob er seine Wahl gut getroffen hat. Denn rein körperlich hat er gegen Bolt nicht die geringste Chance.

Da legt der Donnergott seine riesigen Hände auf Théos Schultern, beugt sich zu ihm und drückt die Lippen auf seine. Fest. Rau. Sein Bart streift kratzig Théos Wange.

Théo seufzt leise auf, spürt, wie ihr Atem sich vermischt. So sehr er seine Allys jedes Mal mit Kalkül wählt, so präzise er seine Spielzüge berechnet, um ihre emotionale Bindung zu festigen – am Ende zerreißt ihm der Abschied das Herz. Jedes Mal.

»Du wirst es sein, Théo. Ich werde nicht gegen dich kämpfen.« Bolt drückt Théos Schultern so fest, dass es schmerzt. »Bring zu Ende, was du angefangen hast.«

Théo kann nicht antworten. Auf seinen Lippen schmeckt er jetzt Salz, aber er spürt keine Tränen.

»Wir sehen uns draußen«, sagt Bolt. Seine Stimme klingt heiser und sanft zugleich. »Es ist nur ein Spiel, das hast du selbst gesagt.« Mit diesen Worten verschränkt er die Hände ineinander, um eine Trittstufe zu bilden.

Ohne ein weiteres Wort steigt Théo auf Bolts Schultern, stemmt die Luke auf, schwingt sich aufs Dach des Fahrstuhls und dann hinüber auf die Wartungsleiter. Nicht eine Sekunde zweifelt er daran, dass geschehen wird, was dieKI angekündigt hat.

Der Fahrstuhl fällt fast lautlos. Bis zum letzten Augenblick starrt Théo durch die Luke hinunter zu Bolt. Sieht ihn fallen, die Haare im Neonlicht flatternd. Bis das Licht verlischt und die Schwärze ihn verschluckt.GAME OVER.

Théo ist jetzt in der Dunkelheit allein. Doch von weit über ihm dringt ein Luftzug zu ihm herab. Und der verführerische Geruch nach Freiheit.

Mit zusammengebissenen Zähnen macht er sich an den Aufstieg, Sprosse um Sprosse durch den Wartungsschacht hinauf. Er sieht nicht mehr zurück. Sonst würde er sich vielleicht ebenfalls einfach fallen lassen. In die Dunkelheit, in der Bolt verschwunden ist und Miramis und all die anderen vor ihnen. Heute, gestern, letztes Jahr oder in denen davor. Wohin? Er weiß es nicht. Immer noch nicht.

»Bring zu Ende, was du angefangen hast.«

Der Wind wird stärker, treibt ihm wirre Strähnen ins Gesicht. Und dann, endlich: die letzte Tür.

Grelles Licht blendet ihn, als er auf das Flachdach hinaustritt. Ein gleißend blauer Himmel, eine blasse Wintersonne. Théo kneift die Augen zusammen. Doch schon im nächsten Moment reißt er sie wieder auf, denn wenn er auch sonst nichts weiß, eines ist ihm so klar wie der Himmel über ihm, dessen Weite und Schönheit ihm schier die Brust sprengen will: Er ist immer noch online. Die ganze Welt kann ihn sehen. Seinen Sieg. Seinen Triumph. Und auch die Tränen auf seinen Wangen, die der Wind nicht rasch genug trocknet. Bombastische Musik dringt über den Audiochip in sein Ohr. Die Dächer Berlins leuchten zu seinen Füßen im weißgoldenen Licht.

Er hat gewonnen. Wieder gewonnen. Gar nichts gewonnen.

Und so viel verloren.

Théo zwingt ein Lächeln auf sein Gesicht, ringt mühsam nach Luft. Kostbare Momente darf er feiern. Atmen. Und dann … Eine stumme Nachricht auf seinem Display. Nicht fürs Publikum. Sondern nur für ihn allein.

Die Regeln (PREGAME).