1
Der Sitzungssaal
Gen Himmel strebten, reich verziert,
Gewölbe in vielerlei Bogen,
Und Engel schwebten hinauf und hinab
Mit Gaben, der Erde entzogen.
Alfred Lord Tennyson, »The Palace of Art«
»O ja. Sie sieht in der Tat so aus, wie ich sie mir vorgestellt habe«, sagte Tessa und wandte sich mit einem Lächeln dem jungen Mann an ihrer Seite zu. Er hatte ihr gerade über eine Pfütze geholfen, und seine Hand ruhte noch immer höflich auf ihrem Arm, knapp oberhalb ihres Ellbogens.
James Carstairs, in einem eleganten schwarzen Anzug, erwiderte ihr Lächeln, während der Wind sein silberhelles Haar hin und her peitschte. Seine andere Hand ruhte auf dem jadeverzierten Knauf seines Spazierstocks, und falls sich irgendjemand in der großen Menge um sie herum insgeheim über die Tatsache wunderte, dass ein derart junger Mensch eine Gehhilfe benötigte, oder über die Tönung seiner Haut und den Schnitt seiner Augen sinnierte, so hielt doch niemand inne, um ihn unverblümt anzustarren.
»Ich werte das als etwas Positives«, bemerkte Jem. »Ich habe mir allmählich schon Sorgen gemacht, dass sämtliche Attraktionen Londons in deinen Augen nichts weiter wären als eine Enttäuschung.«
Eine Enttäuschung. Tessas Bruder, Nate, hatte ihr einst das Blaue vom Himmel versprochen: London sei wundervoll, ein Neuanfang, ein fantastischer Ort zum Leben, eine Stadt mit großartigen Gebäuden und prachtvollen Parkanlagen. Stattdessen waren Tessa in der britischen Metropole jedoch fast ausschließlich Verrat und Schrecken begegnet und Gefahren jenseits ihrer Vorstellungskraft. Und dennoch …
»Nicht alles war eine Enttäuschung«, erwiderte sie und schaute lächelnd zu Jem auf.
»Das freut mich zu hören.« Sein Tonfall war ernst, nicht mokant.
Tessa wandte den Blick ab und betrachtete das imposante Bauwerk, das vor ihnen aufragte: die Westminster Abbey, deren emporstrebende gotische Formen fast den Himmel zu berühren schienen. Die Sonne hatte sich durch den Dunstschleier der dünnen Wolkendecke hindurchgekämpft und tauchte das Kirchengebäude in ein fahles Licht. »Und hier findet es also wirklich statt?«, fragte Tessa, während Jem sie in Richtung des Haupteingangs führte. »Es erscheint mir so …«
»Irdisch?«
»Ich hatte ›überfüllt‹ sagen wollen.«
Die Abbey war an diesem Tag für Touristen zugänglich, und ganze Gruppen von Besuchern strömten durch das gewaltige Portal, die meisten mit einemBaedeker-Reiseführer in der Hand. Eine Reisegruppe aus Amerika – durchgehend Frauen mittleren Alters in altmodischer Kleidung, die mit einem Akzent sprachen, der in Tessa einen Anflug von Heimweh auslöste – eilte an ihnen vorbei die Stufen hinauf, auf den Fersen eines Fremdenführers, der eine Führung dur