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Yafeu
Das Antilopenkalb entfernt sich zu weit von seiner Mutter.
Reglos hocke ich hinter einem Felsen und verfolge seine Bewegungen, während der kleine Bock das ausgedörrte Flussufer nach den letzten Büscheln Sumpfgras absucht. Meine Füße sind fest auf den Boden gepresst, meine Oberschenkelmuskeln gespannt wie Bogensehnen, ich bin zum Sprung bereit. Seit ich die kleine Herde auf ihrem Weg zum Weißen Fluss entdeckte, hat in meinem Körper kein Muskel mehr gezuckt. Durch jahrelanges Training schaffe ich es, die Anstrengung auszublenden; mein Atem geht gleichmäßig, meine Gelenke geben keinen Laut von sich. Ich verlangsame den Fluss meinesNyama – jener Energie, die allem innewohnt –, bis ich ebenso reglos verharre wie der Felsblock.
Du musst so lautlos sein wie der Tod selbst.
Papas tiefe, warme Stimme erklingt in meinen Gedanken ebenso klar, als würde er die Worte laut sagen. Als stünde er direkt neben mir.
Konzentriere dich, sagt er.
Kontrolliert lasse ich die Luft aus meinem Körper entweichen. Bald schon nehme ich das Nyama der Herde ebenso deutlich wahr wie mein eigenes. Ein starker Strom verbindet das Kalb mit dem Muttertier, beide spüren die Nähe des anderen. Das Kalb ist zwar groß genug, um nicht mehr bei der Mutter zu trinken, aber noch nicht erwachsen genug, um sich der Gefahren ringsum bewusst zu sein. Eine frisch geschmiedete Klinge, die noch geschärft werden muss.
Der Weiße Fluss ist flach und schlammig, seine Ufer kahl. Die Grasbüschel, die hier wie die Flecken auf dem Fell einer Giraffe die rötliche Erde zierten, sind verschwunden. Mich umgibt trockenes, sprödes Land, in dem sich kaum mehr Leben regt. Noch mindestens ein Mondlauf wird vergehen, bevor uns Sogbo wieder mit Regen segnet, sodass wir die Saat streuen können. Doch die verdorrte Erde ist mit einem zarten rosafarbenen Schimmer überzogen, da Lisa sich nun langsam über den Horizont erhebt. Die Wärme des Sonnengottes streicht angenehm über meine schwarze Haut, sein Licht lässt die Akazienbäume erstrahlen und weckt die dunkelroten Astrilden, die nun ihr Morgenlied anstimmen. Als ich meinen Tag begann, waren selbst die Vögel noch nicht wach. Rastlosigkeit weckt mich oft zu einer Zeit, in der noch Mawu über die Welt herrscht – immer dann, wenn die Stunde der Jagd gekommen ist.
Das Kalb kommt immer näher, das diffuse Licht des frühen Morgens zeichnet Schatten auf meinen Felsen. Ich sehe bereits vor mir, wie seine winzigen Hörner zwischen den verschiedenen Zähnen und Klauen mein Jagdhemd zieren. Andenken an jene Tiere, die ich in die ewige Nacht geschickt habe.
Vertraue deinem Instinkt. Auch eine Lektion von Papa.Dieser Instinkt wirktdurch dich,um zu töten.
Meine Geduld scheint sich an der Spitze meines Wurfmessers zu manifestieren, als ich es lautlos aus der Scheide ziehe. Ich hebe meinen Arm, so langsam, dass es beinahe schmerzt, bis die Klinge auf Höhe me