: Kurt Kotrschal
: Der Wolf und wir Wie aus ihm unser erstes Haustier wurde - und warum seine Rückkehr Chancen bietet
: Christian Brandstätter Verlag
: 9783710606069
: 1
: CHF 19.00
:
: Natur und Gesellschaft: Allgemeines, Nachschlagewerke
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Kaum eine Beziehung ist so ambivalent wie jene zwischen Wolf und Mensch. Als Wildtiere und als Hunde haben sie unsere kulturelle Entwicklung begleitet, wurden zu unseren sprichwörtlich besten Freunden - aber auch zur Projektionsfläche irrationaler Ängste. Heute ist ihre Rückkehr mit Konflikten und aufgeheizten Debatten über Gefahr und Abschuss verbunden. Kurt Kotrschal, der das Wesen unserer Beziehung zu Wölfen und Hunden erforscht, zeigt: Ohne diese jahrtausendealte Beziehung wären wir nicht die Menschen, die wir sind. Die Probleme mancher mit dem Wolf sind Teil eines problematischen Verhältnisses zur Natur. Um die Biodiversitäts- und die Klimakrise zu überwinden, müssen wir Wölfen ihren Platz zugestehen und erkennen, dass sie auch eine Chance für Ökosysteme sind.

Kurt Kotrschal gehört zu den weltweit renommiertesten Verhaltensforschern. Er ist emeritierter Professor an der Universität Wien, war Nachfolger von Konrad Lorenz am gleichnamigen Forschungsinstitut, Mitbegründer des Wolf Science Center Ernstbrunn und ist heute neben der Wissenschaft verstärkt im Artenschutz engagiert. Fast zwei Jahrzehnte erforscht er bereits das Wesen von Wölfen und Hunden und ihre Beziehung zu uns Menschen. Als Bestsellerautor teilt er sein Wissen mit uns - und seine Faszination und Liebe zu den Tieren, die uns seit Urzeiten begleiten.

Kapitel 1


Wölfe, Hunde und Menschen – eine lange Beziehungsgeschichte


Ein sehr persönlicher Beginn


Die Maiennacht ist so schwarz wie die vier einjährigen Wölfe um mich herum. Ich kann sie fühlen, nicht aber sehen oder hören – denn Wölfe sind Schleicher. Der große Rüde Aragorn liegt mit mir in Körperkontakt, die anderen, Kaspar, Shima und Tayanita, halten dagegen beim Schlafen gerne etwas Abstand. Ich bin weder verrückt noch versuche ich, mich als Alphawolf des Rudels zu profilieren. Vielmehr hatten wir unser eben gegründetes Wolfsforschungszentrum (WSC) im Mai 2009 mit Sack und Pack vom oberösterreichischen Almtal in den niederösterreichischen Wildpark Ernstbrunn übersiedelt. Da Wölfe vorsichtige Tiere sind, könnten sie in einer ihnen unbekannten Umgebung scheu bis panisch reagieren. Um sie durch meine Anwesenheit zu beruhigen, teilte ich daher die ersten drei Nächte mit ihnen das Lager im neuen Gehege. Ein Jahr zuvor waren diese ersten Wölfe des WSC von Friederike Range, Zsofia Viranyi und mir handaufgezogen worden. Dadurch wurden wir zu Partnern mit starker wechselseitiger Bindung.

Ich schlief ganz gut im Stroh des Wolfsunterstands, obwohl die unruhigen vierbeinigen Geister das gemeinsame Nachtlager immer wieder verließen. Es verunsicherte mich, Aragorn nicht mehr an meinem Rücken zu spüren, zumal Kaspar, der später so verlässliche Rudelchef, als Halbstarker noch etwas „verhaltensoriginell“ war. Aber Aragorn kam wieder, ebenso geräuschlos, wie er gegangen war. Ich fühlte seinen mächtigen Kopf auf meinem Oberschenkel – samt der Wirbelsäule eines Rehs. Die Knochen knackten zwischen seinen starken Kiefern. Da ich nicht wusste, ob er mich an seinem Essen tolerieren würde, lag ich zunächst ganz regungslos – nur nicht den Eindruck erwecken, ich wolle ihm seinen Leckerbissen streitig machen! Niemals nehmen