Die Tragödie einer Person
Es ist eine alte, liebe Gewohnheit von mir, jeden Sonntagmorgen für die Personen meiner künftigen Novellen Sprechstunde abzuhalten.
Fünf Stunden lang, von acht bis eins. Und fast jedes Mal gerate ich dabei in schlechte Gesellschaft.
Ich weiß nicht, wie es kommt; aber gewöhnlich strömt das unzufriedenste Volk von der ganzen Welt zu diesen Audienzen zusammen; von ganz besonderen Leiden Heimgesuchte, in die schwierigsten Verhältnisse Verstrickte!
Ich höre sie alle geduldig an. Mit viel Takt versuche ich sie auszufragen, nehme Kenntnis von Namen und Lebensverhältnissen eines jeden Einzelnen und interessiere mich für ihre Gefühle und ihre Wünsche. Aber ich muss auch hinzufügen, dass es nicht immer eine leichte Aufgabe ist, mit ihnen zu verhandeln. Ich kann ja wohl eine ganze Menge vertragen, aber beschwindeln lasse ich mich nur ungern. Und so bedarf es oft einer langwierigen und gründlichen Untersuchung, um bis auf den Grund ihrer Seelen vorzudringen.
So kommt es manchmal, dass sich auf meine Fragen der eine oder andere ganz wütend aufführt, weil er meint, es mache mir Vergnügen, ihn seiner vermeintlichen Würde zu entkleiden. Dann versuche ich sie eben mit aller Geduld und allem guten Anstand davon zu überzeugen, dass mein Fragen keineswegs überflüssig ist. Ich mache ihnen klar, wie leicht es ist, den Willen eines Menschen nach der einen oder anderen Seite umzubiegen; und wie alles daran liegt, ob wir auch das sein können, was wir sein wollen. Wo das Können fehle, da erscheine das Wollen lächerlich und eitel.
Davon lassen sie sich aber meist nicht gern überzeugen. Dann bemitleide ich sie, denn im Grunde bin ich ein guter Mensch. Aber kann man nicht manches Missgeschick nur richtig bemitleiden, indem man herzlich darüber lacht?
Und so kommt es, dass die Personen meiner Novellen überall verbreiten, ich sei ein grausamer und hartherziger Schriftsteller. Es sollte wirklich mal ein wohlgesonnener Kritiker darauf hinweisen, wie viel Mitleid hinter diesem meinem Lachen steckt.
Wohlgesonnene Kritiker?! Wo gibt es die wohl heute noch?
Nun drängen sich in meiner Sprechstunde manchmal einzelne Personen mit solcher Dreistigkeit vor die anderen, dass ich mich gezwungen sehe, sie an die Luft zu setzen.
Nachher reut sie ihre Heftigkeit, und sie kommen wieder und schwören, sie hätten sich gebessert. Dann antworte ich ihnen mit dem freundlichsten Lächeln, nun müssten sie eben ihre Strafe haben und warten, bis ich wieder Zeit und Lust hätte, mich aufs Neue mit ihnen zu befassen.
Unter den Manierlicheren jedoch sind manche, die leise seufzend im Hintergrund warten, manche aber auch, die, des Wartens müde, an der Tür irgendeines anderen Schriftstellers anklopfen. Es ist mir nicht selten passiert, dass ich in den Novellen meiner Kollegen solchen Personen, die sich erst bei mir vorgestellt hatten, wiederbegegnet bin; so wie ich auch wiederum andere traf, die mit der Gestalt, die ich ihnen gegeben hatte, nicht zufrieden waren und dann anderswo besser abzuschneiden hofften.
Ich beklage mich nicht darüber, denn zwei oder drei »Neue« kommen doch fast jede Woche zu mir. Und oft ist der Andrang so groß, dass ich sogar mehreren gleichzeitig Audienz geben muss. Bis mein Verstand, so gleichsam nach verschiedenen Seiten hingezerrt, sich schließlich weigert und verzweifelt ruft: Entweder einer nach dem anderen, in aller Gemütsruhe, oder zum Teufel alle miteinander!
Ich muss immer daran denken, mit welcher Ergebung einmal ein armer, alter kleiner Mann, der von ferne her kam, darauf wartete, bis er an der Reihe war. Ein alter Kapellmeister namens Icilio Saporini, der im Jahre 1849 beim Sturz der römischen Republik nach Amerika hatte auswandern müssen, weil er irgendein patriotisches Lied komponiert hatte, und der nun nach fünfundvierzig Jahren nach Italien zurückkam, fast achtzig Jahre alt, um hier zu sterben. Ausgesucht höflich, mit seinem dünnen, schrillen Stimmchen, ließ er immer allen anderen den Vortritt. Und schließlich eines Tages – ich war noch in der Genesung