: Barbara Büchner
: Lionel Der Löwenmensch
: Elysion Books
: 9783960001607
: 1
: CHF 3.60
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Stephan Bibrowsky, geboren 1890 in Russisch-Polen, war ein Star des Showgeschäfts, ein umschwärmter Liebling der Frauen und obendrein ein gebildeter Mann, der fünf Sprachen beherrschte. In die Geschichte ging er als 'Lionel der Löwenmensch' ein. So üppig war seine weiche, flachsblonde Körperbehaarung, selbst im Gesicht, dass sie einem Löwenfell ähnelte. Er führte ein Leben im Scheinwerferlicht - und zugleich ein Leben im gesellschaftlichen Abseits, denn die bürgerliche Welt war ihm verschlossen. Nur die 'Freakshows' waren sein Zuhause. Aber seine Träume und Sehnsüchte waren dieselben wie die jedes anderen jungen, kraftvollen Mannes. Er liebte - und wurde von vielen Frauen wiedergeliebt.

Barbara Büchner wurde 1950 in Wien geboren und wollte nie etwas Anderes werden als Schriftstellerin, und zwar Schriftstellerin für Kriminal- und Gruselromane. Ihre erste literarische Inspiration war dabei die Heftchen-Serie 'Allan Wiltons Kriminalberichte', die auch ihr Interesse für die Rechtsmedizin weckte. Nach einer guten Ausbildung und einigen missglückten Versuchen, in bürgerlichen Berufen Fuß zu fassen, war sie siebzehn Jahre lang Journalistin. Daher sind ihre Romane immer minutiös recherchiert und beziehen sich meist auf authentische Fälle, sei es Spuk oder Verbrechen. 1985 erschien, unbeachtet von der Öffentlichkeit, ihr erstes Buch, ein Schauerroman. Dann schlitterte sie durch die Ironie des Schicksals in die Laufbahn einer erfolgreichen Kinder- und Jugendschriftstellerin, bis sie 2000 die literarische Pädagogik endgültig satt hatte und das Risiko einging, vom Horror zu leben. Literarisch beeinflusst wurde sie von E.A.Poe, H.P.Lovecraft, Conan Doyle und vor allem Dino Buzzatti. Inzwischen hat sie sich auf diesem, ihrem eigentlichen Gebiet im ganzen deutschsprachigen Raum einen Namen gemacht.

1902, auf dem Gelände des Zirkus Barnum& Bailey


»Lass mich deine Muschi gucken, Gracie. Nur einmal gucken.«

Die beiden jungen Leute, halbe Kinder noch, hatten sich in eine der dumpfen Baracken hinter dem Zirkusgelände zurückgezogen, wo das Heu für den berühmten Elefanten Jumbo und die Pferde aufbewahrt wurde. Draußen brannte die kalifornische Sonne vom Himmel. Der Zirkus Barnum& Bailey gab seit einer Woche Vorstellungen in Los Angeles, und man musste lange suchen, um einen einigermaßen kühlen und dunklen Winkel zu finden. Wer nicht unbedingt arbeiten musste, verschlief die glühenden Mittagsstunden. Das galt vor allem für die Darsteller der Sideshow, die erst am späten Nachmittag ihren ersten Auftritt hatten: Dicke Damen, »lebende Skelette«, Albinos, Siamesische Zwillinge, Zwerge, Riesen, Männer und Frauen ohne Arme, Beine oder Unterleib, der Froschknabe, der Krokodilmann und andere Seltsamkeiten.

»Gracie, sei lieb …«, schmeichelte er.

Das Leopardenmädchen mit dem halb schwarzen, halb weißen Wollhaar und der schwarz-weiß gefleckten Haut lachte. Auf ihren dünnen nackten Beinen tanzte sie vor ihm hin und her und wedelte herausfordernd mit dem Saum ihres weißen Sommerkleidchens. »Mach ich nicht, mach ich nicht!«, sang sie, hob aber gleichzeitig den Rocksaum mit einer blitzschnellen Bewegung so weit hoch, dass ihre rüschenbesetzte Unterwäsche hervorblitzte.

Der Junge stöhnte. »Du darfst bei mir auch gucken«, lockte er.

Sie lachte ihn aus. »Päh, da sehe ich doch nichts als Haare! Aber komm, ich will dich kraulen.« Sie ließ sich auf einen der gepressten Strohballen sinken, spreizte weit die Beine und bedeutete ihm, sich mit dem Rücken zu ihr auf den Boden zu setzen. Er war enttäuscht, aber gekrault zu werden war immer noch besser als gar nichts. Vielleicht würde sie später noch mit sich reden lassen. Sie mochte ihn gerne, das wusste er. Alle Frauen im Zirkus mochten ihn, ausgenommen das merkwürdige Ding, das sich Josephine-Joseph nannte und auf der rechten Hälfte eine Frau war, auf der linken Hälfte ein Mann.

Es war so heiß, dass er es in überhaupt keinem Kleidungsstück aushielt und nur ein Seidentuch um die Hüften geknotet hatte, um der Sittsamkeit Genüge zu tun. Mit einem Gefühl wohliger Benommenheit ließ er den Kopf zurücksinken, direkt in Gracies Schoß.Was gäbe ich dafür, wenn ich jetzt hinten Mund und Augen hätte!, dachte er. Aber da krabbelten ihre schmalen, knochigen Hände schon an seinen Ohren herum, rieben die Ohrmuscheln und wühlten sich durch das üppige, weizenblonde Haar. Sie spreizte die Finger und ließ sie langsam, vorsichtig, um ihn nicht zu ziepen, falls irgendwo ein Elfenknoten steckte, wie eine Flachshechel durch die volle Länge der dicken Flechten gleiten. Dabei musste sie ihre dünnen schwarzen Arme beinahe in voller Länge ausstrecken, denn wenn er aufrecht stand, fielen ihm die langen Locken bis über die Ellbogen. Dann krabbelte sie mit den Fingern seinen Hals hinauf, seine bärtigen Wangen entlang bis zu der Nase, über deren Rücken sich das Haar in feinen Strähnen teilte, hinauf über die Stirn, an der die zoll-langen Augenbrauen bis über die Schläfen zurückgebürstet waren. Haare wuchsen ihm auf den Ohren und auf der Nase, auf den Wangen, der Stirn und dem Kinn, lang und üppig und so seidig weich, dass jedermann diese Löwenmähne berühren und streicheln wollte.

»Du riechst gut«, flüsterte sie und drückte einen verlockenden Kuss auf seinen Nacken, nachdem sie die Haarmähne ein Stück weit beiseite geschoben hatte.

Biest, dachte er.Gemeines kleines Biest. Willst du mich so lang necken, bis ich vor Aufregung platze?

»Lass mich gucken«, bettelte er, jetzt schon ein wenig gereizt, »oder ich geh zu … zu irgendjemand anderem.«

»Zu Josephine-Joseph?«, höhnte das Mädchen. »SIE mag dich ja, aber ER kann di