Vorbemerkung
Die bisherige Wahrnehmung von Bedeutung und Funktion der Lyrik im Werk W. G. Sebalds ist in mancher Hinsicht seiner Essayistik zu vergleichen: Angesichts des extraordinären Interesses, das der Erzählprosa entgegen gebracht wird, hat man die Relevanz der poetischen und essayistischen Schriften bisher zu stark vernachlässigt. Dieser Band versteht sich daher alscompanion piece zuInterventionen, meiner umfangreichen Studie zu den literaturkritischen Schriften, die beide – obschon auf unterschiedliche Weise – sich zum Ziel gesetzt haben, etwas Licht in die noch immer unbeleuchteten Winkel von Sebalds Werk zu bringen.
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Eine gründliche Auseinandersetzung mit den nicht-literarischen Schriften ist erst rund zehn Jahre nach Sebalds Tod langsam in Gang gekommen. Erst die beiden 2012 erschienenen Dissertationen von Peter Schmucker1 und Fridolin Schley2 stützen sich – bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Zielsetzungen – wesentlich auf die Literaturkritik, während die 2008 erschienene Auswahledition der Gedichte keine nennenswerte literaturkritische Reaktion auslösten, bis Axel Englund unlängst mit einer Reihe aufschlussreicher Interpretationen von Sebalds Lyrik hervortrat. In einer davon brandmarkt er zurecht
the injustice of criticism’s complete negligence of Sebald’s poems: while they are often concerned with the same problems as his expansively flowing prose – memory, history, intertextuality, travel, death – these themes are placed in an entirely different light when they are reflected by the dense concentration that marks his treatment of the poetic genre.3
Lässt sich der offizielle Beginn der literaturkritischen Produktion auf die 1969 publizierte Arbeit über Carl Sternheim festlegen, so sind die Anfänge der lyrischen Publikationstätigkeit noch etwas früher zu datieren auf die vier Gedicht