: Jochen Schimmang
: Laborschläfer
: Edition Nautilus
: 9783960542797
: 1
: CHF 18.00
:
: Erzählende Literatur
: German
: 328
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Rainer Roloff führt ein zurückgezogenes Leben. Fragte man ihn nach seiner »Erwerbsbiografie«, so würde er sich als »Privatgelehrter« bezeichnen. Struktur bekommt sein Leben dank einer Langzeitstudie zum Einfluss des Schlafs auf das Gedächtnis, an der er als Proband teilnimmt. Dafür reist er regelmäßig von Köln nach Düsseldorf, selbst in Zeiten der Pandemie, um im Labor seine an das Aufwachen anschließenden Gedanken zu Protokoll zu geben. Roloff, ein Jahr älter als die Bundesrepublik, ist ein idealer und ergiebiger Proband, mit einem Elefantengedächtnis und Aufmerksamkeit für den Zusammenhang zwischen dem kollektivem Unbewussten und der individuellen Erinnerung. Dr. Meissner, der die Studie leitet, findet überwiegend »sehr gelungen«, was sein Proband ihm in einer Mischung aus zeitgeschichtlicher und persönlicher Erinnerung und spielerisch-absurder Noch-Traum-Logik erzählt. Doch dann gerät das Gedächtnis des Schlafforschers selbst aus dem Gleichgewicht... Einmal mehr erweist sich Jochen Schimmang als Meister einer nonchalanten Melancholie, als hintersinniger Chronist der Geschichte, deren teilnehmender Beobachter er ist.

Jochen Schimmang, geboren 1948, studierte Politische Wissenschaften und Philosophie an der FU Berlin und lehrte an Universitäten und in der Erwachsenenbildung. Er ist freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt in Oldenburg. 2010 erhielt er für seinen Roman »Das Beste, was wir hatten« den Rheingau Literatur Preis und 2012 den Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar für »Neue Mitte«. 2017 erschien sein Roman »Altes Zollhaus, Staatsgrenze West«, 2019 die Erzählungen »Adorno wohnt hier nicht mehr«. 2019 wurde Jochen Schimmang mit dem erstmals verliehenen Walter Kempowski Preis für biografische Literatur des Landes Niedersachsen ausgezeichnet, 2021 erhielt er den Italo-Svevo-Preis für sein Lebenswerk.

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ERINNERUNGEN AN DEN TOAST MOZART


1Das Foto, selbstverständlich schwarzweiß, demonstriert schon durch den weißgezackten Rand, dass es von früher kommt, von sehr viel früher, aus – für uns – unvorstellbarer, unvordenklicher Zeit. Eine Zeit, die so fremd ist, dass weder Leonie noch ich sie uns vorstellen können, obwohl wir so viel darüber gehört und gelesen und in Filmen gesehen haben. Wir beide waren noch nicht auf der Welt, und unsere Mutter kannte unseren Vater noch nicht. Auf dem Foto strahlen sechs junge Mädchen in die Kamera, unsere Mutter ist die vierte von links. Unsere Mutter und ein anderes Mädchen haben dunkle Röcke und unterschiedliche Blusen an, eine mit floralem Muster (Mutter), eine mit Streifen. Die vier anderen Mädchen tragen eine Uniform: ein dunkler Rock mit einem ebenfalls dunklen Gürtel, eine weiße Bluse und ein dunkles Halstuch mit einem Knoten, wahrscheinlich aus Leder. Die sechs stehen nebeneinander in einem Raum mit Holzbänken und Holztischen; man denkt an ein Vereinsheim oder Ähnliches. Im Hintergrund sieht man an der Wand ein Foto des Führers, leicht verschwommen, aber eindeutig identifizierbar, darunter eine Frakturschrift, die aber zu undeutlich ist, um sie entziffern zu können. Dafür steht auf der Rückseite des Fotos deutlich zu lesen:Juni 1935. Agnes, Gerda, Hildegard, ich, Ursula und Anneliese. Ursula ist das zweite Mädchen, das Zivil trägt, das mit der gestreiften Bluse.

»Die Uniformen sind BDM«, sagt Leonie, »Bund Deutscher Mädel. Die Röcke sind in Farbe dunkelblau, die Gürtel auch, das Halstuch ist schwarz und der Lederknoten braun. Ich habe mich schlau gemacht. Aber Mama ist in Zivil. Sie ist einfach mit ihren Freundinnen zusammen. Die sind alle fünfzehn oder sechzehn.« Ich erkenne unsere Mutter auf dem Foto, und Agnes scheint mir eine der Nachbarinnen und Freundinnen unserer Mutter aus der Zeit nach dem Krieg zu sein, vier Häuser weiter, die dann mit ihrem Mann weggezogen ist, ins Bergische, glaube ich. Eine von diesen dunkel Gelockten oder Dauerwelligen, wie ich sie aus meinen Roro-Träumen kannte. Dennoch wird das Foto dadurch nicht vertrauter, sondern bleibt vollkommen fremd. Aufgenommen ist es sicher irgendwo in Köln oder im Umland, aber auf mich wirkt es so, als hätte es auch in Nordkorea gemacht werden können.

Ich bin zwei Jahre nicht mehr in Leonies