Prolog
Welcher ein trewe Mutter find
der hat Schätz vber alle Welt
er seh nur datz er jhrs vergelt.
10. November 1639
Gedankenverloren stand Clara Melchin auf der Wiese der lichten Anhöhe des Lindenbuckels am Rande des Tettnanger Waldes. Gebannt richtete sie ihren Blick auf die nördlich gelegenen, verheerten Überreste der Hauptstadt zur Grafschaft Tettnang der Herren von Montfort. Der kalte Wind, der die Baumkronen im Reigen tanzen ließ und die nassen Gräser der Wiese sanft wiegte, strich durch ihr langes schneeweißes Haar. Clara fröstelte es. Der dünne Leinenstoff ihrer Schürze und das Unterkleid mochten keinen rechten Schutz gegen die aufziehende Kälte bieten. Sie schmiegte sich in ihren braunen Umhang. Auch das weiße Häubchen, das ihr Haupt zierte, schonte ihre Ohren nur mäßig vor dem anhaltenden Wind. Dennoch stimmte all das Clara nicht verdrießlich. Immerhin trug der Wind ihre Gedanken davon.
Der Martinisommer, der im November die letzten Schönwettertage mit sich zu bringen pflegt, war in diesem Jahr ausgeblieben. Stattdessen hatte sich tagsüber eine Regenfront über das Land ergossen und eine stramme Brise mit sich geführt. In der Ferne tat sich die Richtstätte am Galgenberg auf. Dort war die leibeigene Dienstmagd Anna Lohrin anno 1625 wegen Hexerei und Pakten mit dem Teufel enthauptet und verbrannt worden.
Claras Blick schweifte vom Torschloss über die lausig vernarbte Schneise der Verwüstung hinüber zum Turmstumpf der linker Hand aufragenden Burgruine. Die schwedischen Kavallerieregimente, derer drei, waren sechs Jahre zuvor im Kampf für die protestantische Sache in Tettnang eingefallen. Ganze dreiunddreißig Wochen hatten sie die Stadt belagert, waren brandschatzend, plündernd und mordend durch die Gassen gestreift. Als sie endlich abgezogen waren, blieb unsägliches Leid zurück. Die meisten Behausungen lagen in Schutt und Asche. Kaum mehr als zwölf Dutzend gräuelgeplagte Seelen waren in der einst blühenden Montfortstadt verblieben. Wen Eisen und Feuer verschont hatten, auf den hatte der von den Schweden durch die Stadttore gelotste Schwarze Tod gelauert. Flucht und Hungersnot hatten schließlich ihr Übriges getan. Im Lande kursierte die weitläufige Ansicht, es sei im gesamten Schwäbischen Kreis kein Ort übler verwüstet worden als Tettnang.
Eigenartig. Es mochte grotesk anmuten, doch einzig der elendige Anblick dieser Relikte unbarmherziger Zerstörung vermochte es, Clara ein Gefühl der Leichtigkeit und Beschwingtheit einzuhauchen. Für eine kurze Zeit entfloh sie dem leidlichen Irdischen und tauchte in die berauschenden, befreienden Weiten der Gedankenlosigkeit ein. Dabei lag die Realität, ihre triste Realität, ihr zur Wirklichkeit gewordenes Grauen, gerade einmal ein Fünftel eines Tagesmarsches entfernt. In einer zwanzig Fuß langen und zehn Fuß breiten Bauernhütte an der Schussen in Eriskirch, wo die Wände lediglich aus einer Holzpfostenkonstruktion mit Weidenastgeflecht bestanden. Den Boden bildete festgestampfter Lehm, und das Dach war aus einem Schilfgedeck gefertigt. Strohsäcke dienten als kärgliche Schlafstätte.
Als Claras Vater Jakob noch gelebt hatte, hatte sie mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder L