Der Abend zuvor
Pfarrer Gabrijel Jukić stand nachdenklich am Fenster und sah Marija nach, während sie über den Kiesweg zu ihrem Auto ging. Vierzehn Jahre war Marija mittlerweile bei ihm beschäftigt, doch blieb sie für ihn bis heute auf seltsame Art undurchdringlich. Im Grunde wäre sie nicht seine erste Wahl gewesen – wenn er damals überhaupt eine Wahl gehabt hätte. Aber heutzutage wollten Frauen nicht mehr als Pfarrhaushälterin arbeiten. Es war ihnen peinlich, als wäre das etwas Verwerfliches. Als wäre es redlicher, in diese grässliche Tourismusbranche zu gehen.
Er beobachtete, wie Marija in ihr Auto stieg und sich kurze Zeit später rollend vom Pfarrhaus entfernte, vorbei an der Kirche des heiligen Paulus, für die er Dienst tat. Dann verschwand sie aus seinem Sichtfeld und fuhr bergab zur Hauptstraße.
Langsam wandte er sich vom Fenster ab und ging über den kleinen Flur in die Küche. »Im Kühlschrank sind noch Papaline und Krautsalat von gestern«, hatte Marija gesagt, bevor sie hinausgegangen war. Sprotten mit Krautsalat – darauf freute er sich jetzt, denn Marija wusste diese kleinen Fische hervorragend zuzubereiten, sie so zu backen, dass sie nicht auseinanderfielen und schön knusprig wurden. Überhaupt gab es nichts, was Marija nicht köstlich zubereiten konnte. Für ihn wahrlich ein Segen, denn er war nun einmal ein leidenschaftlicher Esser. Mittlerweile konnte man es nicht mehr übersehen, dachte Pfarrer Gabrijel griesgrämig und nahm sich vor, bald mindestens zehn Kilo abzunehmen. Vielleicht könnte er sogar fünfzehn schaffen, wenn er Kuchen und Desserts reduzieren würde. Schuld war Marija, mit ihrer Backerei. Wie sollte er denn widerstehen, wenn sie nach dem Mittagessen die verlockende Süßspeise vor ihn hinstellte?
Pfarrer Gabrijel öffnete den Kühlschrank und ließ seinen Blick über die gestapelten Tupperware-Boxen schweifen. Unbewusst fing er an zu lächeln. Das war eine der Tugenden, die er an Marija zu schätzen wusste. Sie war fleißig, gewissenhaft, ordentlich (genau genommen pedantisch), eine hervorragende Köchin und dazu auch noch sparsam. Reste vom Mittagessen verpackte sie in Plastikbehälter und stellte sie in den Kühlschrank. Manchmal forderte er sie auf, etwas mit nach Hause zu nehmen, was sie auch tat, aber nicht ohne anzumerken, dass es eigentlich zu viel für sie allein sei. Anscheinend meinte Marija immer noch, dass er glaubte, sie lebe allein. Als ob er ihr deswegen Vorwürfe machen würde! Seltsamerweise waren die Menschen der felsenfesten Überzeugung, dass sämtliche katholischen Pfarrer über jeden den Stab brechen, der unverheiratet mit jemandem zusammenlebt.
Wie konnte er etwas gegen die Liebe haben, die zwei Menschen einander entgegenbrachten? Allerdings fand er es seltsam, dass einige Menschen ihre Liebe nicht von Gott segnen ließen. Neumodische Flausen, dachte er kopfschüttelnd.
Nachdem er die Papaline und den Krautsalat auf einen Teller verteilt hatte, setzte er sich an den alten Eichentisch und aß gedankenverloren vor sich hin. Zum ersten Mal verspürte er den drängenden Wunsch, sich jemandem anzuvertrauen.
Der Anruf.
Diese entsetzliche Beichte.