: Susan Hill
: Herzstiche Der zweite Fall fu?r Inspector Serrailler
: Kampa Verlag
: 9783311703167
: Ein Fall für Inspector Serrailler
: 1
: CHF 13.40
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 368
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der neunjährige David wartet vor dem Haus seiner Eltern im englischen Städtchen Lafferton darauf, zur Schule abgeholt zu werden, doch dort kommt er nie an. Für Detective Chief Inspector Simon Serrailler entwickelt sich der Fall zum Albtraum: Die Ermittlungen scheinen im Sande zu verlaufen. Ist der Junge entführt worden? Ist er tot? Serrailler muss hilflos mit ansehen, wie Davids Familie an der Katastrophe zu zerbrechen droht. Dann verschwindet im Nachbarort ein weiteres Kind. Und auch privat kommt Serrailler nicht zur Ruhe: Der Tod seiner Kollegin Freya Graffham ist ihm nähergegangen als erwartet. Serrailler fährt nach Venedig, um auf andere Gedanken kommen, aber er muss die Reise abbrechen: Seine schwerbehinderte Schwester Martha liegt auf der Intensivstation und ringt mit dem Tod. Zu allem überfluss taucht dann auch noch eine Frau aus Serraillers Vergangenheit auf ...

Susan Hill wurde 1942 in Yorkshire geboren. Ihre Geistergeschichten und die Kriminalromane um Simon Serrailler haben sie zu einer der populärsten britischen Schriftstellerinnen gemacht. Ihr Gothic-Roman Die Frau in Schwarz läuft als Theateradaption seit über dreißig Jahren im Londoner West End und wurde 2012 erfolgreich mit Daniel Radcliffe in der Hauptrolle verfilmt. Für ihre Romane, Erzählungen und Jugendbücher wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Somerset Maugham Award, und zum Commander of the British Empire ernannt. Susan Hill lebt in Norfolk in einem alten Bauernhaus, in dem in jedem Winkel Bücher stehen, die im Winter gut isolieren. 

1


Im Frühlicht lag der Nebel weich und rauchig über der Lagune, und es war noch so kühl, dass Simon Serrailler froh um seine gefütterte, wasserabweisende Jacke war. Wartend stand er auf der leeren Fondamenta, den Kragen hochgeschlagen, eingehüllt in die gedämpfte Stille. Bei Tagesanbruch an einem Sonntagmorgen im März tat sich kaum etwas in diesem Teil Venedigs, in den nur wenige Touristen kamen; Sonntag war Ruhetag, und sogar die frühen Kirchgänger waren noch nicht auf den Beinen.

Er mietete hier stets dieselben zwei Zimmer über dem leeren Lagerhaus seines Freundes Ernesto, der jeden Moment anlegen würde, um Simon auf die andere Seite der Lagune zu bringen. Die Zimmer waren gemütlich und schlicht, erfüllt vom wunderbaren Licht des Wassers und des Himmels. Nachts war es ruhig, und von der Fondamenta aus konnte Simon an den abgelegenen Kanälen entlangwandern und nach Motiven für seine Zeichnungen Ausschau halten. In den vergangenen zehn Jahren war er mindestens einmal, wenn nicht zweimal pro Jahr hier gewesen. Es war sowohl Arbeitsplatz wie auch Schlupfloch aus seinem Leben als Detective Chief Inspector, genauso wie es ähnliche Zufluchtsorte in Florenz und Rom gab. In Venedig fühlte er sich am meisten zu Hause, deshalb kehrte er immer wieder hierher zurück.

Das Tuckern eines Motors kündigte das Boot an, das gleich darauf neben ihm aus dem silbrigen Nebel auftauchte.

»Ciao.«

»Ciao, Ernesto.«

Das Boot war klein und zweckmäßig, ohne die romantischen Verzierungen traditioneller venezianischer Gondeln. Simon verstaute seine Segeltuchtasche unter dem Sitz und stellte sich neben den Bootsführer, der wendete und über das offene Wasser preschte. Der Nebel legte sich wie Spinnweben auf ihre Gesichter und Hände, und Ernesto verlangsamte für eine Weile die Fahrt, bis sie plötzlich eine Schneise durch den Dunstschleier zu schlagen schienen und in ein diesiges, gelbliches Licht gelangten, in dem Simon die vor ihnen liegende Insel erkennen konnte.

Er war schon mehrmals auf San Michele gewesen, war herumgewandert, hatte Eindrücke in sich aufgenommen – eine Kamera benutzte er nie –, und er wusste, dass er die Insel mit etwas Glück um diese Uhrzeit für sich allein haben würde, selbst ohne die schwarz gekleideten, arthritischen Witwen, die hier ihre Familiengräber in Ordnung hielten.

Ernesto sagte nicht viel. Er war kein redseliger Italiener. Er war Bäcker, arbeitete nach wie vor in der höhlenartigen Backstube, wie Generationen seiner Familie zuvor, und lieferte immer noch selbst das frische, warme Brot an den Kanälen aus. Aber er würde der Letzte seiner Familie sein, sagte er jedes Mal, wenn Simon kam; seine Söhne hatten kein Interesse, studierten in Padua und Genua, und seine Tochter war mit dem Geschäftsführer eines Hotels in der Nähe von San Marco verheiratet. Wenn Ernesto mit dem Backen aufhörte, würden die Öfen erkalten.

Die Lagunenstadt veränderte sich, venezianische Traditionen verschwanden, die Jugend blieb nicht, machte sich nichts aus dem harten Alltagsleben auf den Booten. Venedig würde bald sterben. Simon fand das schwer zu glauben, konnte die Prophezeiungen des nahenden Untergangs nicht recht ernst nehmen, wo doch die alte, magische Stadt immer noch da war, nach Tausenden von Jahren und trotz aller düsteren Vorhersagen, die über der Lagune schwebten.

Irgendwie, in irgendeiner Form würde die Stadt überleben, auch das echte Venedig, nicht nur die überfüllten und teuren Touristenviertel. Die Menschen, die an den abgelegeneren Wasserarmen jenseits der Zattere und der Fondamenta und an den Kanälen hinter dem Bahnhof lebten und arbeiteten, würden das auch noch in hundert Jahren tun, einander stützen und ihre Dienste in den Hotels und Touristenvierteln a