Dies ist ein Stundenbuch. Es erzählt von einem fiktiven Tag in Istanbul, in Begegnungen mit Menschen, die mir ihre Lebensgeschichten anvertraut haben. Sie sind Teil einer großen zeitgenössischen Geschichtserzählung – ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die Vielfalt erinnert an die Farben eines türkischen Kelims, in den viele Muster eingewebt sind. Einige Geschichten verlangen nach dem Schutz der Nacht, andere nach der Helligkeit eines sonnendurchfluteten Morgens am Bosporus.
Istanbul ist die Mitte der Türkei und liegt doch an ihrem Rand. Die Stadt ist so alt, dass sie ihr eigenes Alter vergessen hat, und sie wird jeden Tag neu erfunden. Sie betört den Neuankommenden mit ihrer Grandezza, von »betäubenden Eindrücken« schwärmte der italienische Reisende Edmondo De Amicis im 19. Jahrhundert. Die Hymnen auf die Stadt mit den vielen Namen – Byzanz, Neues Rom, Konstantiniyye, Stambul, Konstantinopel, Istanbul – sind bis heute nicht verstummt. Wer aber länger bleibt, der ahnt bald, welchen Preis ihre Bürgerinnen und Bürger im 21. Jahrhundert dafür zu zahlen haben, in einer modernen Megalopolis zu leben. In Trabantenstädten, von denen es bis zur Hagia Sophia und zur Galatabrücke eine Halbtagsreise ist. Die türkische Gesellschaft ist von scharfkantigen Gegensätzen geprägt, und dies nicht erst, seit Recep Tayyip Erdoğan Anfang der 2000er Jahre eine »neue Türkei« erfand. Eine meiner Erzählerinnen kann dies bezeugen, sie ist älter als die Türkisch