: Tyson Yunkaporta
: Sand Talk Das Wissen der Aborigines und die Krisen der modernen Welt
: Matthes& Seitz Berlin Verlag
: 9783751803472
: 1
: CHF 17.90
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wie indigenes Wissen die Welt retten kann. Eine Erzählung der Welt aus Sicht der Aborigines. 'Sand Talk' beschert dem Leser nichts weniger als einen Wechsel der Perspektive, von der aus wir die Krisen der modernen Welt betrachten und neu beurteilen können. Tyson Yunkaporta, Angehöriger des im australischen West Cape York beheimateten Apalech-Clans und Professor für Indigenes Wissen, vermittelt in diesem an Geschichten reichen Buch das tiefe, komplexe und prozesshafte Wissen der Aborigines. Ein Wissen, das aus der innigen und symbiotischen Beziehung zum Land und zu den Ahnen besteht und auf dem Denken in Geschichten und dem Erkennen von Mustern beruht. Es ist flüchtig wie die Zeichnungen, die bei den Zwiegesprächen oder den Unterhaltungen in der Gruppe in den Sand gezeichnet werden, und zugleich umfassend wie die Traumzeit. Es ist aber auch ein Wissen, das durch die westliche Zivilisation verheert wurde, die die weiten Gebiete Australiens ausgeplündert und die Kultur der Aborigines, die sich als Hüter des Landes verstehen, marginalisiert und verstümmelt hat. Yunkaporta macht dieses verschüttete Wissen lebendig und sucht in den Mustern der indigenen Kultur nach Möglichkeiten, die Moderne auf den Weg der Nachhaltigkeit zu führen.

Tyson Yunkaporta ist Wissenschaftler und Kunstkritiker. Er ist Angehöriger des im äußersten Norden des australischen Queenslands beheimateten Apalech Stammes. Er schnitzt traditionelle Werkzeuge und Waffe und unterrichtet als Professor für Indigenes Wissen an der Deakin University in Melbourne. Dirk Höfer, 1956 geboren, ist Autor und Übersetzer und lebt in Berlin. Studium der Bildenden Kunst und der Philosophie. Weinhändler. Synchronschreiber. Redakteur der Kulturzeitschrift Lettre International, später Drehbuchschreiber und Spieleentwickler für Ludic Philosophy, Berlin. Bei Matthes& Seitz Berlin erschienen u.a. seine Übersetzung von Jason Moores Kapitalismus im Netz des Lebens sowie sein mit Martin Burckhardt geschriebener Essayband Alles und Nichts.

Albinojunge


Uns-zwei gehen mit Cancy McKellar, dem Wangkummarra Song-Mann, die Traumpfade entlang. Das sind uralte Traumpfade, die in Gesang und Geschichten in die Landschaft geätzt und in unseren Köpfen und Körpern und Beziehungen mit allem, was uns umgibt, kartiert sind: Wissen, das in jedem Gewässer und jedem Fels gespeichert ist. Wir wandern durch das Corner Country, wo Queensland, South Australia und New South Wales zusammentreffen. Cancy macht meine Ahnenlinien ausfindig und zeigt mir, wo sich deren Geschichten mit den seinen verbinden.

Keiner von uns ist besonders dunkelhäutig, und vielleicht deshalb streicht er die Albino-Charaktere in seinen Überlieferungen besonders heraus. Eine weiße Eulenfrau mit heller Haut und blondem Haar, die eineGubbiwarlga wird, eine weise Frau, und sich schließlich in einen Quarzbrocken verwandelt. Ein Albinojunge, der in seiner Gemeinschaft durch ihm übel Gesinnte erst geächtet und schließlich verbannt wird. Als wir an die Stelle mit Steinen kommen, die von dem Albinojungen aufgestellt wurden, verschlägt es mir den Atem. In seiner Verbannung ließ er den Kopf nicht hängen, sondern arbeitete hart und mutete sich einiges zu.

Überall sind massive, behauene und glatt geschliffene Felsbrocken zu sehen, die der Junge auf aufrecht stehenden Steinen platziert und ausbalanciert hat, zu losen Pulks gestapelt oder zu Prozessionen aufgereiht. An dieser gewaltigen Stätte, zu der auch ein die Jahreszeiten und die Bewegungen der Himmelskörper anzeigender Sonnenuhrkalender gehört, stehen mehr Steine, als uns-zwei zählen können. Es ist mir unverständlich, warum ich bislang noch nie von diesem Ort gehört habe, warum er nicht so berühmt ist wie Stonehenge. Als ich meine Hand auf einen der Steine lege, spüre ich ein tiefesduum aus ihm aufsteigen, das, aus dem Boden kommend, durch meine Schulter bis hinunter in meine Eingeweide nachdröhnt, und denke, damit eine Antwort auf meine Frage erhalten zu haben.

Dies ist keine archäologische Stätte, an der Grabungen und Forschungen vorgenommen werden. Der Ort ist immer noch bewohnt. Der Junge ist nach wie vor da, und er wird keinen Wert auf uneingeladene Besucher legen. Der Ort ist kein Monument. Er lebt. Jeder Stein ist lebendig, ein fühlendes Wesen – in unserer Weltsicht gilt dies freilich für alle Steine. Weit weg von hier gibt es eine geheime Höhle,