9.
Und so traf ich Gaustín nicht, weder auf dem Friedhof noch in der Seilbahn auf den Zürichberg. Mein Aufenthalt neigte sich dem Ende zu, ich hatte mich mit einer Bulgarin im Café am »Römerhof« in die Sonne gesetzt, und wir plauderten unbehelligt, indem wir die Vorteile einer kleinen Sprache nutzten, die Gelassenheit, dass dich niemand verstehen wird, während du über alles herziehst. Wir kommentierten mutig drauf los – von den Besuchern des Cafés über irgendwelche Schweizer Merkwürdigkeiten bis hin zur ewigen Schwermut und zu den Unbilden, Bulgare zu sein, ein Thema, geeignet, jede peinliche Pause im Gespräch auszufüllen. Für den Bulgaren ist das Sich-Beklagen wie das Aufgreifen des Wetters für den Briten, immer angebracht.
Und in diesem Moment drehte sich ein würdevoller, schön gealterter Herr, der einen Schluck von seinem Kaffee nahm, zu uns um und sagte mit der sanftesten bulgarischen Stimme (sanft und bulgarisch reimen sich für gewöhnlich nicht): Verzeihen Sie, dass ich Sie aus nächster Nähe belausche, aber wenn ich schönes Bulgarisch höre, kann ich meine Ohren nicht ausschalten.
Es gibt Stimmen, die sofort eine Geschichte erzählen, es war die Stimme eines Emigranten, aus der alten Emigration; bewundernswert ist, wie sie ihr Bulgarisch ohne Akzent bewahren, nur an ein paar wenigen Stellen waren manche Vokale in den 50ern oder 60ern der Sprache hängengeblieben, was ihr eine leichte Patina verlieh. Unsere Verlegenheit als auf frischer Tat Ertappte verflog schnell, immerhin hatten wir nichts über den Herrn gesagt.
Und es begann jenes Gespräch zwischen Landsleuten, die sich zufällig getroffen haben, meine Rolle war eher die des Ohrs. Es verging eine Stunde, aber was ist eine Stunde für Jahre der Abwesenheit, unsere Dame entschuldigte sich und brach auf, wir setzten uns an einen Tisch, haben Sie ein wenig Geduld, ich will nur diese Geschichte fertigerzählen und dann können wir gehen, ich hatte sie, versteht sich. Als das Gespräch begann, war die Sonne in den Vitrinen des Cafés und der Uhr eingedöst, die drei Uhr nachmittags anzeigte, dann wurden die Schatten der Tassen länger, auch unsere Schatten, die Kühle der Dämmerung näherte sich, aber ohne sich zu beeilen, gab sie uns gnädig Zeit für die Beendigung einer Geschichte, die länger als fünfzig Jahre dauerte.
Er war ein Mensch mit messerscharfem Denken, an manchen Stellen hielt er inne, um das passendste Wort zu finden. Nein, jetzt übersetze ich aus dem Deutschen, warten Sie kurz, es wird kommen, da, das ist das Wort … und er fuhr fort. Sohn eines vergessenen Schriftstellers und Diplomaten, eine Kindheit am Vorabend des Krieges, in den Botschaften Europas. Ich wusste von seinem Vater, was ihn freute, ohne dass er dem sichtbaren Ausdruck verliehen hätte. Danach kam die klassisch bulgarische Geschichte nach 1944 – der Vater entlassen, verurteilt, war im Arbeitslager Belene, geschlagen, verängstigt, kaputt; ihre Wohnung beschlagnahmt und einem »richtigen« Schriftsteller gegeben, und sie mit der Familie irgendwo an den Stadtrand geschickt.
Mein Vater verlor nie ein Wort darüber, was ihm im Lager zugestoßen ist, nie, sagte mein Gesprächspartner, nennen wir ihn Herrn S. Nur einmal, meine Mutter hatte Kartoffeln gekocht und entschuldigte sich dafür, dass sie wohl nicht ganz durch waren, da brachte er über die Lippen – das macht nichts, ich habe sie auch roh gegessen, habe wie ein Wildschwein in der Erde gewühlt. Und er verstummte wie jemand, der mehr gesagt hat, als er hätte sollen. Danach wurde auch Herr S. selbst, wie es sich gehört, für 15 Monate ins Gefängnis gesteckt, erstens als Sohn seines Vaters und zweitens für alle Fälle nach dem Ungarischen Volksaufstand. Später schien sich sein Leben zu erholen, er sagte sich, dass er nicht ans Gefängnis denken würde, an die Spitzel, die ihn auch weiterhin verfolgten, aber eines Nachts, als er auf die letzte Straßenbahn wartete, sah er ein vollkommen leeres Schaufenster und starrte es an. Nur eine Glühbirne baumelte an einem Kabel von der Decke und warf flackerndes Licht.
Eine Glühbirne, ein Kabel und ein leeres Schaufenster.
Er konnte den Blick nicht abwenden. Er hörte gleichsam im Halbschlaf, wie die Straßenbahn quietschend anhielt, kurz wartete, die Türen schloss und abfuhr. Er betrachtete die Glühwendel dieser wie eine Gehängte von der Decke baumelnden einfachen Glühbirne. Und dann ging mir ein Licht auf, sagte er, das, was ich sogar vor mir selbst immer verborgen hatte – ich musste weg. Mir ging ein Licht auf, wiederholte er und lachte. Es war der 17. Februar 1966, ich war dreiunddreißig.
Von hier an war alles diesem Gedanken unterworfen, er hatte einen Plan. Seine Arbeit gegen eine solche einzutauschen, bei der sie Arbeiter für Ostdeutschland suchten. Sich von allen zu verabschieden, ohne dass die es mitbekamen. Zuerst der beste Freund, dann die Frau, mit der er zusammen war. Er verriet sich vor niemandem, nicht einmal zu Hause. Als er abreiste, sagte sein Vater nur, pass auf dich auf, und umarmte ihn länger als gewöhnlich. Und seine Mutter nahm eine Schüssel mit Wasser und schüttete sie auf die Treppenstufen aus, um ihm Glück zu wünschen, das hatte sie nie zuvor getan. Sie sahen sich nie wieder.
Aus dem Zug in dieDDR stieg er am Bahnhof in Belgrad aus, um eine zu rauchen, und verschwand in der Menge. Sein Koffer blieb im Zug. Sein Vater war einmal Botschafter in Belgrad gewesen, hier hatte Herr S. die ersten Jahre seiner Kindheit verbracht. Und er konnte sich noch erinnern, wie der Krieg begonnen hatte – mit einem Telegramm in der Diplomatenpost am 1. September 1939. Ich dachte als Kind, dass Kriege so beginnen, mit einem Telegramm. Seit damals mag ich keine Telegramme, sagte Herr S.
Als er Monate später in der Schweiz ankam, nach vielen Transfers und Schwierigkeiten, empfing ihn ein Freund seines Vaters am heutigen Tag hier, und Herr S. trank seinen ersten Kaffee in Zürich mit ihm genau an diesem Ort. Es war dieselbe Sonne. Seit damals kam er jedes Jahr an diesem Datum hierher.
Und Zweifel, Sehnsucht, zumindest am Anfang?
Nein, sagte er schnell, als wäre es eine vorgefertigte Antwort. Nein, nie, nie. Ich war neugierig auf diese Welt, ich hatte als Kind in ihr gelebt, ich sprach ihre Sprache, und letztlich floh ich von einem Ort, wo ich 15 Monate im Gefängnis verbracht hatte, ich floh vor dem Gefängnis.
Anhand der Schnelligkeit, mit der er es sagt, vermute ich, dass er nicht aufgehört hat, daran zu denken.
Er erzählte von einem Mittagessen mit seinem Freund Georgi Markov in London, drei Tage bevor dieser umgebracht wurde. Offenbar schauderte er immer noch bei dieser Geschichte.
Ich fuhr mit dem Auto, und Jerry wollte mitfahren, er hatte irgendwas in Deutschland zu erledigen, konnte aber erst in drei Tagen, doch ich musste zurückfahren. Wir gingen zu seinem Chef in der Redaktion derBBC, um zu fragen, ob man ihn früher gehen lassen würde. Man sagte ihm, er müsse einen Ersatz für sich finden, er winkte ab und gab es auf. Ich fuhr allein, machte für einige Tage Halt in Deutschland, danach weiter Richtung Zürich, ich holte mir die Zeitung vom Bahnhof, schlug sie auf und was blickte mir entgegen – das Foto von Jerry, derselbe, den ich vor einer Woche noch umarmt hatte, tot.
Das Gespräch ging zu anderen Themen über, die Dunkelheit hatte sich bereits herabgesenkt, mein Gesprächspartner erschrak, er hätte seine Frau anrufen sollen. Und dann, als wir uns an der Tür verabschiedeten, sagte er plötzlich, wissen Sie, es gibt hier einen Landsmann von uns, mit dem ich mich angefreundet habe. Auch er hat wie Sie ein Ohr für vergangene Dinge. Ich unterstütze ihn, er hat da etwas angefangen, eine kleine Klinik für Vergangenheit, so nennt er sie …
Gaustín?, rief ich fast aus.
Sie kennen ihn?, entgegnete Herr S. ehrlich überrascht. Niemand kennt ihn, sagte ich.
So hatte Gaustín diesmal beschlossen, sich bei mir zu melden, durch eine zufällige Begegnung mit Herrn S., einem Emigranten aus Bulgarien, im Café...