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Nichts an meiner Herkunft deutete darauf hin, dass ich mich eines Tages im wirtschaftlichen und politischen Machtzentrum Chinas wiederfinden würde. Ich wurde nicht in den roten Adel hineingeboren, also in die Gruppe der Nachkommen der elitären kommunistischen Führer, die im Jahr1949 die Macht in China errungen hatten. Ich war weit davon entfernt, dieser Elite anzugehören. Und meine Persönlichkeit machte mich ebenfalls nicht zu einem geeigneten Kandidaten für eine Machtposition.
Ich wurde im November1968 in Shanghai in eine Familie hineingeboren, die gespalten war. Da gab es die einen, die nach der chinesischen Machtergreifung verfolgt worden waren, und andere, denen dieses Schicksal erspart geblieben war. Nach kommunistischer Doktrin gehörte mein Vater einer der »fünf schwarzen Kategorien« an. Diese Kategorien waren »Grundbesitzer«, »reicher Bauer«, »Konterrevolutionär«, »schlechtes Element« und »rechtes Element«. Bis zur Revolution von1949 waren meine Vorfahren Grundbesitzer. Sie waren doppelt belastet, wenn man das Verbrechen hinzuzählt, dass sie Verwandte im Ausland hatten. An jedem anderen Ort der Welt wäre dies ein Vorzug gewesen, aber im China der Fünfziger- und Sechzigerjahre bedeuteten wirtschaftlicher Erfolg und noch dazu internationale Verbindungen, dass man von den Kommunisten als »geborenen Ratte« geschmäht wurde. Die Geringschätzung, die unsere Familie in den Augen der Regierung verdiente, hinderte meinen Vater daran, eine gute Schule zu besuchen. Er hegte sein Leben lang einen tiefen Groll gegen die Welt.
Die Familie meines Vaters besaß Grundstücke in Suzhou, einer Kleinstadt im Mündungsdelta des Yangzi, die wegen ihrer malerischen Gärten und Kanäle auch als »chinesisches Venedig« bezeichnet wird. In unserer Familie erzählte man sich, dass der Shum-Clan im Jahr1949, als sich die Kommunisten im Bürgerkrieg mit der von Chiang Kai-shek geführten Guomintang durchsetzen konnten, alle Wertgegenstände auf dem Anwesen der Familie vergraben hatte. Auf diesem Grundstück, das von der kommunistischen Regierung konfisziert wurde, steht heute ein staatliches Krankenhaus. Vor einigen Jahren beschrieb mir ein älterer Verwandter genau, wo die Wertgegenstände der Familie vergraben liegen, und versuchte, mich dazu zu bewegen, den Schatz auszugraben. Doch da der chinesische Staat alles, was unter der Erde ist, als sein Eigentum betrachtet, schien mir dieses Vorhaben wenig verlockend.
Mein Großvater väterlicherseits war vor der Revolution ein angesehener Rechtsanwalt in Shanghai gewesen. Als die Kommunisten das Land in einen immer engeren Würgegriff nahmen, hätte er wie viele andere wohlhabende Chinesen fliehen können, aber er konnte sich nicht mit der Aussicht anfreunden, sich in einen verarmten Flüchtling zu verwandeln. In seinen Augen konnte sich Hongkong, der bevorzugte Bestimmungsort für Auswanderer aus Shanghai, nicht mit seiner Heimatstadt messen, die damals als das »Paris des Ostens« galt. Er glaubte dem Versprechen der Kommunisten, sie würden gemeinsam mit den Kapitalisten das »neue China« errichten, und entschloss sich zu bleiben.
Mein Vater verzieh meinem Großvater diese schicksalhafte Entscheidung nie und machte das naive Vertrauen seines Vaters in die Kommunistische Partei dafür verantwortlich, dass ihm seine Jugend gestohlen wurde. Im Jahr1952 schlossen die Behörden die Anwaltskanzlei meines Großvaters und vertrieben die ganze Familie, darunter meinen Vater, seine zwei Brüder und seine Schwester, aus ihrem dreistöckigen Reihenhaus in Shanghai, das mein Großvater vor der Revolution mit Goldbarren gekauft hatte. Daraufhin kehrte er mit der gesamten Familie nach Suzhou zurück. Nur mein Vater, der zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt war, blieb in Shanghai, um die Schule abzuschließen.
Es war eine schwere Zeit für ihn. Er kam bei wechselnden Verwandten unter und war, wenn es ums Essen und einen Platz zum Schlafen ging, auf deren Gnade angewiesen. Oft ging er mit leerem Magen zu Bett. Ein Onkel, der vor der kommunistischen Machtergreifung ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen war, behandelte ihn sehr gütig, obwohl die Revolution ihm übel mitgespielt hatte. Die neue Regierung beschlagnahmte sein Unternehmen und degradierte ihn zum Rikschafahrer in einer der Fabriken, die sein Eigentum gewesen waren. Die Kommunisten verstanden sich meisterhaft auf derartige Strafmaßnahmen, die dazu dienten, den kostbarsten Besitz eines Mannes zu zerstören: seine Würde und Selbstachtung.
Als Spross einer kapitalistischen Juristenfamilie in einem kommunistischen Land lernte mein Vater, sich unauffällig zu verhalten. Auf sich allein gestellt zu sein, machte ihn widerstandsfähig und lehrte ihn, sich unter widrigen Bedingungen zu behaupten. Aber seine Notlage vertiefte nur seinen Groll gegenüber seinem Vater, der sich die Chance hatte entgehen lassen, mit seiner Familie aus China zu fliehen.
Die Erfahrung, allein und hungrig in Shanghai aufzuwachsen, weckte bei meinem Vater eine tiefe Angst vor engen Beziehungen zu den Menschen in seiner Umgebung. Er hasste es, jemandem etwas schuldig zu sein, und verließ sich nur auf sich selbst – eine Haltung, die auch ich mir aneignen sollte.
Noch heute fühle ich mich nicht wohl, wenn ich jemandem