Freiheit
Aufwachen
Um ehrlich zu sein: Als ich den Prolog-Text zum ersten Mal gelesen habe, konnte ich mich anfangs nicht dran erinnern, dass ich Zeze (wie Sönke zu diesem Spitznamen – den man wie das »ZZ« vonZZ Top auspricht – gekommen ist, dazu später mehr) diese Anker-Kiste geschenkt habe. Blöd eigentlich, denn das ist ja eine echt schöne Geste. Als ich das nächste Mal mit ihm telefonierte, gab ich zu, dass mir die Geschichte entfallen war. Da sagte er »Fuck you« und klang ein wenig enttäuscht. Meine blöde Direktheit tat mir sofort leid. In solchen Dingen bin ich leider etwas stoffelig, wenn auch ehrlich. Bei unserem nächsten Treffen brachte er die Kiste dann mit. Schönes Teil. Dunkles Holz, goldener Anker obenauf, Klappschloss aus Messing, und auf der Innenseite des Deckels steht in meiner Handschrift »Cowgirl,2004«. Als ich das sah, fiel mir die Nacht an der Alster natürlich doch wieder ein. Manchmal brauchst du etwas zum Anfassen, um dich an Dinge zu erinnern. Überhaupt ist es interessant, wie unterschiedlich und individuell Erinnerungen funktionieren. Aber das ist hier nicht der Punkt. Hier geht es darum, dass der Anker das perfekte Symbol für das Verhältnis zwischen meinem Bruder und mir ist. Zeze mag sich an andere Dinge erinnern als ich, wir haben unsere eigenen Leben und eigenen Herausforderungen, aber letztendlich sind wir immer füreinander da, halten den anderen fest, wenn er abtreibt, lassen aber auch los, wenn er Freiraum braucht. Das ist unser Prinzip. Darum geht’s. Wie bei einem Anker.
Bei Drehbüchern heißt es immer: Du musst die Geschichte in möglichst ein bis zwei Sätzen zusammenfassen können. Ich versuch das mal für dieses Buch: Es ist ein Brüderbuch – die Geschichte zweier ungleicher Brüder, die, jeder auf seine Art, ihre eigenen Grenzen ausloten und dabei den Wert des anderen erkennen – der weit über ein gewöhnliches Brüderverhältnis hinausgeht. So in der Art. Oder vielleicht auch ganz anders.
Etwas unkomplizierter könnte ich auch sagen: Es geht um Liebe. Nicht um besitzergreifende oder zielgerichtete Liebe im romantischen Sinne des Wortes, sondern um eine archaische, universelle Form menschlicher Verbundenheit, bei der Status und Alter keine Rolle spielen. Damit meine ich auch nicht den dahergesagten Blut-ist-dicker-als-Wasser-Quatsch, auch wenn da durchaus etwas dran sein kann. Es ist auch kein Brüderbuch im Sinne eines Männerbuchs, das feiert, was wir gemeinhin als maskuline Werte verstehen. Eher geht es darum, all diese Schubladen zu ignorieren, zu hinterfragen oder sie einfach gar nicht erst zu öffnen. Und es geht um die Offenheit, die daraus erwächst. Um das, was danach kommt. Was dann wiederum sehr viel mit dem Titel des Buches zu tun hat: Rausch und Freiheit sind begrifflich mindestens genauso vielschichtig wie die Liebe. Es sind die Worte, in denen sich diese Liebe offenbart.
Manchmal brauchst du ein Gegenüber, um Dinge richtig zu begreifen. Das kann eben auch der jüngere Bruder sein. Begonnen hat der Weg zu dieser Erkenntnis erstaunlicherweise nicht in unserer Kindheit, nicht in unserem Elternhaus in Herne, wo wir aufgewachsen sind. Er begann6000 Kilometer davon entfernt. In New York. Deshalb spielt diese Stadt in diesem Buch eine wichtige Rolle – ein Ort, der mehr für uns ist als eine geografische Koordinate oder berühmte Metropole. New York ist ein Gefühl, eine Haltung, vielleicht ein Rausch an sich. Und ein Teil von uns beiden. Für immer.
Als ich1986 zum ersten Mal nach New York kam, war ich19, Punk und brannte innerlich lichterloh. Ich hatte die letzten Jahre meines Lebens damit verbracht, in Proberäumen rumzubrüllen, in Clubs Pogo zu tanzen und leidenschaftlich dagegen zu sein. Der stinkende, stickige, lärmende Moloch, der diese Stadt damals noch war, passte perfekt zu dieser Haltung. New York schien nur auf mich gewartet zu haben. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich auch nur eine Sekunde überfordert gewesen wäre von dem unablässigen Gehupe, Gedränge und Sire