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Tod des Vaters
Nichts läuft nur geradeaus. Es ist selten möglich, etwas schnurgerade zu realisieren. Vielleicht ist das auch nicht der Sinn des Lebens, vielleicht gehören Umwege zum Dasein. Sie lassen uns genauer hinschauen, über den Tellerrand blicken. Viele denken, es sei ein Fehler, Umwege zu gehen, dass es dem Ideal eines perfekten Lebens widerspräche. Aber zu einem perfekten Leben gehören eben auch die Fehler, nur so entwickelt sich ein Mensch weiter, begreift, was es heißt, Mut zu haben und etwas zu wagen. Wer den geraden Weg einschlägt, wird erfahren, dass das Leben an ihm vorbeizieht. Während die anderen neugierig sind, sich ausprobieren wollen, nicht hinnehmen, was da ist, selbst wenn es noch so unabänderlich erscheint.
Wer nicht korrigiert und keine Erfahrungen sammeln will, fängt irgendwann an zu lamentieren und bleibt vielleicht innerlich stehen. Doch klagen sollte nur, wer zuvor wenigstens versucht hat, etwas zu verändern. Umwege sind Bewegung – und die ist unabkömmlich, um nicht ständig auf alten Gleisen zu fahren. Leben ist ein Experiment, da darf es Überwindung kosten, etwas Neues zu wagen, die täglichen Routinen zu durchbrechen und die altbekannten Wege zu verlassen. Es ist nachvollziehbar, dass man sich vor Umwegen fürchtet, vor dem Ungewissen, Fremden. Manchmal scheint es, als würden Ereignisse direkt in eine Sackgasse führen, ohne Chance auf eine Umkehr. Doch Sackgassen verwandeln sich ab und an in einen Tunnel, an dessen Ende es hell wird. Nicht immer strahlend, aber mit genügend Licht, um sich wieder orientieren zu können. Mit dem Empfinden, es geschafft zu haben. Ohne in einstige Muster zu verfallen, die einen nur wieder in derselben Sackgasse enden lassen.
Meist wird einem erst im Nachhinein klar, dass es doch einen Ausweg gibt, der auf die eine oder andere Weise auf einem alten Weg aufbaut. Der einem hilft, das Erlebte nachhaltiger zu verarbeiten, sich selbst und andere Menschen besser zu verstehen. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der Umwege nur bedingt zugelassen wurden. Anfangs waren sie noch denkbar, aber als mein Vater starb, gab es nur einen Weg: geradeaus! Ohne Abweichungen nach links oder rechts, ohne Wenn und Aber. Und dieser ohnehin schon schmale Pfad wurde zunehmend enger.
Als ich Anfang der Sechzigerjahre zur Welt kam, wurde über die Bindung zwischen Vätern und Töchtern noch kaum gesprochen, damals erhielten die Mütter Lob und Anerkennung, wenn es um die Erziehung der Kinder ging. Natürlich gab es die Kehrseite: Geriet der Nachwuchs nicht so, wie man es sich vorgestellt hatte, machte man meistens die Mütter dafür verantwortlich. Väter blieben außen vor, ihnen wurde wenig Beachtung geschenkt. Man fand es schön, wenn der Vater mit seinem Sohn Fußball spielte oder die Tochter vom Ballettunterricht abholte, ansonsten sah man in ihm kaum den Elternteil, der die Kinder prägte. Erst als die Mütter dem Herd den Rücken kehrten und zu arbeiten begannen, rückte die Bedeutung der Väter und ihrer Verantwortung ihren Kindern gegenüber mehr und mehr in den Fokus. Studien in den Siebzigerjahren verdeutlichten den Beitrag der Väter am Wohlbefinden und Selbstbewusstsein des Nachwuchses.
Ich war ein richtiges Papakind. Ich fühlte mich von ihm geliebt, weil ich mich bei ihm geborgen und von ihm akzeptiert fühlte, und ich liebte ihn. Mein Vater war ein großer, stattlicher Mann. Er war schlank und sportlich, dunkelhaarig, mit braunen Augen. Manchmal war ich richtig stolz auf ihn. Ich hatte, was man gemeinhin als eine glückliche und behütete Kindheit bezeichnet. Ich liebte auch meine Mutter, klar, aber anders, nicht so intensiv. Sie konzentrierte sich vor allem auf meine vier Brüder, einer älter, drei jünger als ich. Mir war das nur recht, ich hatte ja meinen Vater. »Du bist mein einziges Mädchen«, sagte er oft zu mir. Als meine Mutter nach der Geburt meines eineinhalb Jahre jüngeren Bruders Gerhard zur Kur fuhr, kümmerten sich mein Vater und meine Großtanten um mich und meinen älteren Bruder Martin. Bevor mein Vater mit dem Fahrrad zum Wildermuth Gymnasium fuhr, an dem er zu diesem Zeitpunkt Englisch und Deutsch unterrichtete, brachte er mich zu meinen Tanten, und abends holte er mich wieder ab. Wann immer ich an die Zeit mit ihm denke, überkommt mich ein Gefühl der Geborgenheit. Als Kind ahnte ich noch nicht, dass ich dieses Gefühl später über viele Jahre vermissen würde.
Mein Vater nahm sich Zeit für mich, brachte mir das Schwimmen bei, und als ich es beherrschte, erhielt ich neben viel Lob zur Belohnung einen Ring und einen Marsriegel. Letzteres wäre heute nicht der Rede wert, war damals jedoch etwas Besonderes. Die Väter aus der Nachbarschaft hielten es nicht für nötig, ihren Töchtern das Schwimm