Februar
Tuva trommelt nervös mit den Fingern auf dem Tresen. Sie ist immer noch im Café am Hornstull, obwohl sie längst mit der Arbeit fertig sein müsste. Ein Kunde, der sich soeben in der Ecke niedergelassen hat, sieht genervt zu ihr herüber, und sie wirft ihm einen tödlichen Blick zu. Sie prägt sich sein Aussehen ein und nimmt sich vor, diesem Kunden beim nächsten Mal kein Herz auf den Cappuccino zu streuen. Eher einen Mittelfinger.
Wenn sie unpünktlich ist, bekommt sie schlechte Laune. Und jetzt ist sie richtig spät dran. Ohne nachzudenken, streicht sie sich das lange blonde Haar hinters Ohr. Vor einer halben Stunde hätte sie Linus vom Kindergarten abholen müssen. Gegen die finsteren Mienen des Personals ist sie mittlerweile immun, aber ihr zweijähriger Sohn wird traurig sein. Und Tuva ist niemand, der Kinder traurig macht. Vor allem Linus nicht. Sie weiß nicht, wie oft sie schon gesagt hat, dass sie für ihn sterben würde. In Wirklichkeit ist es nicht ganz so einfach. Gott weiß, wie viel Mühe sie sich gibt. Extrem viel. Sie legt die Schürze ab, öffnet die Besenkammer und wirft die Schürze auf den überquellenden Wäschekorb. Sie kann erst gehen, wenn die Ablösung kommt. Wo um alles in der Welt bleibt er?
Martin, der Vater von Linus, war an dem Tag, als sein Sohn zur Welt kam, verreist. Tuva hat ihm das nicht zum Vorwurf gemacht, schließlich war sie zwei Wochen vor dem errechneten Termin mit dem Krankenwagen in die Klinik gebracht worden. Seltsam fand sie jedoch, dass Martin sie auch in den darauffolgenden Tagen nicht auf der Wochenstation besuchte. Die Entbindung war nicht ohne Komplikationen verlaufen. Sie war zu erschöpft gewesen, um sich alles genau zu merken, und erinnerte sich nur vage an Ärzte, die ihr und dem Baby immer wieder Blut abnahmen und schließlich befanden, dass alles gut sei. Genau wie Martin in den kurzen Textnachrichten, die sie während des Krankenhausaufenthalts bekam. Er würde kommen, schrieb er, müsse nur vorher noch ein paar Dinge erledigen. Im Gegensatz zu den verschwommenen Tagen auf der Wochenstation blieb ihr die leere Wohnung, die sie und Linus bei ihrer Rückkehr erwartete, messerscharf im Gedächtnis. Während sie unter Schmerzen ihren gemeinsamen Sohn zur Welt gebracht hatte, hatte Martin seine Sachen gepackt und die Wohnung verlassen. Das hatte er offenbar mit den »Dingen« gemeint, die er noch »zu erledigen« hatte. Seitdem hatte sich das feige Arschloch weder blicken noch von sich hören lassen. Vielleicht auch besser so, denn sie hätte ihn höchstwahrscheinlich umgebracht, wenn er wieder aufgetaucht wäre.
Stattdessen hatte sie sich ganz auf Linus konzentriert. Sie und Linus gegen den Rest der Welt, wobei diese Welt leider viel zu oft zwischen ihnen stand. Wie zum Beispiel jetzt. Daniel, der für die Nachmittagsschicht eingeteilt war, hätte schon vor einer Stunde hier sein sollen, war aber immer noch nicht da. Sie musste ihn anrufen, um ihn zu wecken. Mittags um halb zwei. War sie mit einundzwanzig auch so verantwortungslos gewesen? Vermutlich. Kein Wunder, dass es mit ihm nicht funktioniert hatte. Sie sieht auf ihre Uhr.
Verfluchte Scheiße!
Sie schlüpft in ihre Daunenjacke und setzt sich die Mütze auf, dann bereitet sie zwei doppelte Espressos zu. Einen in einer normalen Tasse und einen im Pappbecher zum Mitnehmen.
Vermutlich ist es wieder mal Matti, der im Kindergarten auf sie warten muss. Matti, der Kindergärtner, den ihr Sohn manchmal Papa nennt. Matti wirft ihr jedes Mal diesen Blick zu, der sagen will, dass sie mehr Zeit mit ihrem Kind verbringen sollte, anstatt so viel zu arbeiten. Tja, vielen Dank für das schlechte Gewissen. Als ob es nicht reichen würde, sich mit Linus’ Tränen auseinandersetzen zu müssen, weil er wieder mal nicht weiß, wann seine Mama endlich kommt.
Der Espresso ist in dem Moment fertig, als Daniel verschlafen hereinspaziert. Mit ihm zieht die bittere Februarkälte herein, und einige Gäste schlottern demonstrativ, aber Daniel scheint keine Notiz davon zu nehmen. Oder es ist ihm egal. Wie ist sie bloß auf die Idee gekommen, ihn jemals auch nur ansatzweise attraktiv zu finden?
»Hier«, sagt sie so eisig, wie das mit einer einzigen Silbe möglich ist, und schiebt ihm die Espressotasse über die Theke. »Den wirst du brauchen. Ich hau ab.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, schnappt sie sich ihren Pappbecher, rast hinaus in den Schnee, der nicht die geringsten Anstalten macht zu schmelzen, und prallt vor lauter Unaufmerksamkeit mit einem gebrechlichen Paar zusammen.
»Verzeihung, ich bin spät dran, muss mein Kind vom Kindergarten abholen«, murmelt sie, ohne die beiden anzusehen.
»Nun, Kinder versetzen einen ja immer wieder in Erstaunen. Oft wissen sie sich durchaus selbst zu helfen.«
Die Stimme klingt freundlich und nicht vorwurfsvoll.
Tuva antwortet nicht, aber sie ist erleichtert, dass ihre Ungeschicklichkeit keinen Ärger provoziert hat. Die Menschen sind so unglaublich empfindlich. Es haben schon einige Gäste nicht nur auf einer chemischen Reinigung, sondern auch auf einer saftigen Entschädigung bestanden, nachdem Tuva ihnen versehentlich Kaffee auf die Sachen geschüttet hatte. Sie lächelt dem Paar entschuldigend zu. Der Espresso in Tuvas Hand schwappt über und ruft ihr auf diese Weise ins Gedächtnis, dass sie für so was jetzt wirklich keine Zeit hat. Sie murmelt noch eine Entschuldigung und hetzt im Laufschritt weiter zur U-Bahn. Den Espresso trinkt sie unterwegs. Zuerst verbrennt sie sich die Zunge, dann spürt sie die viel zu heiße und bittere Flüssigkeit im Magen. Sie schmeckt nach Chemie, fast wie Medizin. Sie muss dringend die Maschine reinigen. In der kalten Luft wirkt der Kaffee fast noch heißer.
Wenn sie Linus abgeholt hat, will sie mit ihm zusammen ins Café zurückkehren. Dort soll er a