Kapitel 1
Kapitel 1
Manche Ereignisse fingen so harmlos an, dass man später kaum sagen konnte, wann und wie genau sie ins Rollen gekommen waren. Das hatte Suri schon oft erfahren.
»Das Leben ist ein Flickenteppich«, sagte Opa manchmal, wobei er nachdenklich nickte. »Aus den unterschiedlichsten Schnipseln zusammengesetzt.«
Doch er sprach nie darüber, wer diesen Teppich knüpfte. Und wie es bei den Milliarden von Menschen auf der Welt überhaupt möglich war, dass jeder Einzelne seinen eigenen Lebensteppich besaß.
Suri fragte sich, wie ihrer wohl aussehen mochte. Bunt, glaubte sie. In unzähligen strahlenden, zauberschönen, aber auch sanften, gedeckten, dunklen Farben.
Und sie zerbrach sich vergeblich den Kopf darüber, aus welchem Grund dem einen ein großer, prächtiger Lebensteppich zufiel und dem andern ein schmales, blasses, fadenscheiniges Exemplar.
Welche Erklärung gab es dafür, dass der kleine Miro aus der Nachbarschaft mit drei Jahren von einem Auto überfahren wurde, während der alte Herr Schwitters, der in den Abendstunden verwirrt durch die Straßen geisterte, gerade seinen zweiundneunzigsten Geburtstag gefeiert hatte?
Ein Flickenteppich.
Und jede einzelne Situation, jedes noch so unwichtig erscheinende Ereignis wurde darin verwoben.
Jedes.
• • •
Einmal hatten sie beim Essen über ihre Namen geredet.
»Was bedeutet eigentlich Bjarne?«, fragte Bjarne damals aus heiterem Himmel.
»Der Name kommt aus dem Dänischen und Norwegischen«, antwortete Mama geistesabwesend. Auf dem Stuhl neben ihr summte ihr Handy und sie schielte unauffällig auf das Display.
»Cool!«
Bjarne stopfte sich eine halbe Sandwichscheibe in den Mund und kaute wie ein Hamster mit vollen Backen.
»Er bedeutetFresssack«, behauptete Erik grinsend.
Bjarne boxte ihn auf den Arm.
»Erik«, ging Mama dazwischen. »Hör auf, deinen Bruder zu provozieren.«
»Was bedeutet der Name denn wirklich?«, kehrte Bjarne zum Thema zurück.
»Bär«, sagte Mama und warf Erik einen warnenden Blick zu. »Außerdem steckt darinbrun, ein altes deutsches Wort fürBraun.«
»Brauner Bär.«
Bjarne stopfte sich die zweite Sandwichhälfte in den Mund. Er schien mit der Erklärung sehr zufrieden zu sein. »Kraft. Größe. Stärke. Wow.«
»Und mein Name?«, erkundigte sich Erik.
»Ist ebenfalls nordisch und heißtAlleinherrscher.«
Mama hatte offensichtlich keine Lust auf das Thema. Ihr Handy meldete sich erneut, und sie überflog die Nachricht, was den Kindern während der Mahlzeiten streng verboten war.
Diese beantwortete sie sofort. Ihre Daumen flogen nahezu über die Tasten.