Wovon sprechen wir hier eigentlich?
Zunächst ein paar Begriffsklärungen. Obwohl die Begriffe »Islamismus« und »politischer Islam« gleichgesetzt werden können, darf nicht der Fehler gemacht werden, dies mit den Begriffen »Islamismus« und »Islam« auch zu tun: Islamisten sind nicht gleich Muslime.
Muslime sind eine sehr heterogene Gruppe. Es gibt Sunniten, Schiiten, Aleviten, Ahmadis und viele weitere kleinere Gruppierungen. Es gibt unterschiedliche Ethnien, Kulturen, Herkunftsländer und Konfessionen. Es gibt liberale und konservative Muslime. Muslime, bei denen Religion eine große Rolle im Leben spielt wie etwa bei den Sufis, aber auch sogenannte Kulturmuslime, die den Islam nicht praktizieren, sich aber einer islamischen Kultur zugehörig fühlen.
Selbst der politische Islam ist kein einheitliches Phänomen. und die unterschiedlichen Strömungen sind nicht immer klar voneinander abgrenzbar. Zudem fehlt es an einer wissenschaftlichen Definition. Der Verfassungsschutz spricht beispielsweise von »legalistischem Islamismus«, wenn er den politischen Islam meint. Ich selbst fasse unter dem Begriff »politischer Islam« Ideologien zusammen, die Religion nicht nur spirituell verstehen und praktizieren, sondern ihr eine politische Dimension hinzufügen, indem sie einen Systemwechsel anstreben. Diese Ideologien sehen im Islam eine universale, gottgewollte Ordnung, die jeden, wirklich jeden Bereich des Lebens umfasst. Der Islam, so ihre Überzeugung, ist also nicht nur eine persönliche, privat religiöse Angelegenheit, sondern auch eine juristische und politische. Individualität, Pluralismus, Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit, Säkularität, Volkssouveränität und viele andere Fortschritte, die demokratische Gesellschaften ausmachen, werden abgelehnt. Nur religiöse Gebote und heilige Texte entsprechen dem Willen Allahs, haben einen Absolutheitsanspruch gegenüber anderen gesellschaftlichen Modellen und stehen somit über jeder weltlichen, von Menschen gemachten Ordnung. Das Ziel ist eine Staats- und Gesellschaftsordnung, in der nach den Bestimmungen der religiösen Gesetze des Islam, der Scharia, regiert wird.
Die Fragen, bei denen sich islamistische Gruppierungen unterscheiden, sind: Wie wollen wir unsere Ziele erreichen? Und: Wie groß ist unsere Bereitschaft, bei bestimmten, nicht grundsätzlich religiösen und politischen Fragen, Reformgedanken zuzulassen?
Zu den wesentlichen Hauptrichtungen des politischen Islam, und auch hier gibt es keine einheitlichen, klar abgrenzenden Definitionen, gehören Salafisten und legalistische Islamisten. Salafisten sind klar in ihrer Kommunikation und lehnen die Demokratie und jegliche Anpassung, Reform oder Modernisierung des Islam ab. Sie sind unflexibel in ihren Einstellungen und durch ihr Erscheinungsbild leicht erkennbar. Sie haben keinen langen Atem bei der Verfolgung ihres Ziels und wollen am liebsten sofort einen Gottesstaat errichten. Dies wollen sie erreichen, indem sie teilweise massiv und sichtbar missionieren oder Gewalt anwenden. Die gewalttätigen Salafisten werden Dschihadisten genannt. Zudem gibt es aber auch Salafisten, die zwar selbst keine Gewalt anwenden, diese aber legitimieren.
Salafisten in ihrer Gesamtheit als Islamisten zu identifizieren ist vergleichsweise leicht. Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass sie nur einen Teil des islamistischen Spektrums ausmachen. Der überwiegende Teil, die legalistischen Islamisten, gehen einen anderen Weg: Sie versuchen, wie der Name schon sagt, mit legalen Mitteln Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen, immer mit dem Ziel, demokratische Grundprinzipien zu verändern und mehr von ihren Werten in der Gesellschaft zu etablieren. In der Regel lehnen sie Gewalt als Mittel ab, sind in manchen religiösen Fragen flexibel und schließen Fortschritt, Wissenschaft und sogar Teile der Demokratie in ihre Zukunftsgedanken mit ein. Unter sie fallen beispielsweise Organisationen wie Millî Görüş und Zweige der Muslimbruderschaft, aber auch kleinere Organisationen und Einzelpersonen. Sie alle haben im Gegensatz zu den Salafisten eine unfassbare Ausdauer und denken langfristig. Der legalistische Islam verfolgt globale Ziele, ist sich aber auch für kleine Schritte nicht zu schade. So arbeitet er auch punktuell und lokal, um vor Ort mehr Einfluss nehmen zu können. Seinen Akteuren ist klar, dass sie selbst wahrscheinlich keinen Gottesstaat mehr erleben werden – zumindest nicht in Europa und anderen westlichen Staaten, d