1. KAPITEL
Die kalte Februarsonne tauchte den Schauplatz des schrecklichen Unfalls in den italienischen Apenninen in strahlend helles Licht. Vor einem Jahr hatten hier fünfzehn Menschen bei einem Seilbahnunglück ihr Leben verloren.
Heute hatten sich die Angehörigen an dieser Stelle versammelt, um ihrer Lieben zu gedenken. Einige blickten zu dem neu errichteten Sessellift über dem Wasserfall, der über schroffe Felsen in die Tiefe stürzte. Die Andacht wurde mit Rücksicht auf die ausländischen Gäste sowohl auf Englisch als auch auf Italienisch abgehalten.
„Lasst uns ihrer mit Stolz und Freude erinnern, dankbar, dass wir sie kennen durften …“
Dann war alles vorbei. Einige Leute gingen, andere verweilten in stillem Gebet.
Alysa blieb länger als die meisten, denn sie wusste nicht, was sie sonst anfangen und wohin sie gehen sollte. Etwas tief in ihrem Innern hielt sie hier fest.
Da trat ein junger Journalist mit einem Mikrofon in der Hand zu ihr und sprach sie auf Italienisch an. Als er ihre verständnislose Miene bemerkte, wechselte er schnell ins Englische.
„Darf ich fragen, warum Sie hier sind? Haben Sie auch jemanden bei dem Unglück verloren?“
Einen verrückten Moment lang wollte sie ihr Leid herausschreien: „Ich trauere um einen geliebten Mann, der mich betrogen und verlassen hat, und um unser ungeborenes Baby, von dem er noch nichts wusste. Er ist hier gemeinsam mit seiner Geliebten gestorben. Sie hatte Mann und Kind, aber sie hat diese ebenso hintergangen wie er mich. Ich habe wirklich keine Ahnung, warum ich hierhergekommen bin. Ich weiß nur, dass ich es tun musste.“
Ein Jahr lang hatte sie ihre Trauer mit niemandem geteilt und ihr Elend und ihre Einsamkeit vor aller Welt verborgen, aus Angst, sich sonst in ihrem abgrundtiefen Kummer und Zorn völlig zu verlieren und sich nicht mehr kontrollieren zu können.
„Nein. Ich war nur neugierig.“
Der sympathische Reporter seufzte enttäuscht. „Dann können Sie mir also nichts berichten? Keiner will mit mir sprechen, und der Einzige, den ich kenne, ist Drago di Luca.“
Bei der Erwähnung dieses Namens zuckte sie zusammen. „Ist er hier?“
„Das ist der finster dreinblickende Herr da drüben.“
Sie sah in die angegebene Richtung. Der Mann strahlte etwas Düsteres aus. Doch es lag nicht an seinem Äußeren, nicht an seinem Haar, das ebenso dunkel war wie seine durchdringend blickenden Augen. Es schien von Innen herauszukommen. Alysa schauderte.
Er hatte ein kantiges Gesicht mit einer markanten Nase und einer ausgeprägten Kinn- und Wangenpartie, und sein Blick hatte, selbst auf diese Entfernung erkennbar, etwas Wildes an sich, das sich jede Annährung verbat.
„Dem möchte man lieber nicht in die Quere kommen, oder?“, murmelte der Journalist. „Aber er hat auch allen Grund zu seinem Groll. Seine Frau starb hier, und es heißt, sie habe ihn kurz vorher verlassen.“
Einen Moment lang suchte Alysa nach Worten. „Ist das