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Losgelöst von allem, was in seinem Leben schiefgelaufen ist, taucht er, der Strömung folgend, tief unter dem Meeresspiegel. Er muss nur ganz sanft mit den Flossen paddeln, gleichmäßig über sein Mundstück ein- und ausatmen und staunen, wie still und wunderschön es unter Wasser sein kann. Das Korallenriff leuchtet, wenn die Strahlen der Sonne das Meer durchdringen. Steinkorallen wiegen sich im Wasser und schimmern in Blau- und Violetttönen, ein Paradies der Farben, in dem sich Fische in allen Größen und Schattierungen tummeln. Die kleinen in Schwärmen, die größeren vereinzelt, gleiten sie durchs Wasser und ignorieren das schwarze Monster in ihrer Mitte. Er ist ein Eindringling in ihrer Welt, die großartiger ist, als er sich das jemals vorstellen konnte.
Seeigel, Seepferdchen, Seesterne, Feuerfische, Maskenkugelfische, Blaue Drückerfische … Die meisten sind ihm unbekannt, und wenn er seine Hand ausstreckt, um sie sanft zu berühren, weichen sie aus und verschwinden in dem bunten Garten. Stundenlang könnte er zwischen den Korallen tauchen und staunen. Raum und Zeit vergessen.
Bis er wieder einatmen will und – es kommt nichts. Kein Sauerstoff. Verdammt, er muss auftauchen. So schnell es geht. Er paddelt nach oben, durchbricht die Wasseroberfläche, holt tief Luft …
… und ist allein. Wo sind die anderen, die mit ihm getaucht sind? Wo ist das Boot, von dem aus sie ins Meer sprangen? Eine Weile waren sie nebeneinander getaucht, bis er sich von der Gruppe löste, sich von der Strömung treiben ließ. Sie hat ihn immer weiter weggezogen, ins Meer hinaus. Kein Boot, keine Spur von Land. Nur die tosenden Wellen, denen er ausgeliefert ist. Da, jetzt sieht er einen winzigen Punkt am Horizont, das könnte die Rettung sein! Er versucht, gegen die Strömung in Richtung Boot zu schwimmen, doch er wird regelmäßig von den mörderischen Wellen zurückgeworfen. Ein Meter vorwärts, fünf Meter zurück. Er wird es niemals schaffen. Todesangst. Panik …
Mit einem Schrei erwacht Martin Glück aus seinem Albtraum. Er ist nass von Schweiß. Der Tauchgang im Meer, der so schön begonnen hatte, endete grauenvoll. Seine Therapeutin, zu der er seit dem Salzburger Mord wieder geht, würde ihn als unterdrückte Angst deuten: vor seinem ersten Tauchkurs. Dabei ist Wasser doch sein Element! Er schwimmt gerne, schon als Bub während der Sommerfrischen am Wörthersee hat er das geliebt. Auch Wasserski und Segeln mag er. Vielleicht sollte er doch besser an der Wasseroberfläche bleiben?
Martin steht auf und öffnet das Fenster. Kein Meer in Sicht. Wäre auch ein Wunder im Burgenland, das sanfte Hügel und Wälder kennt, Burgen selbstverständlich, Weingärten, Windräder und einige Seen. Einen großen und ein paar andere. Das zweitkleinste und östlichste Bundesland Österreichs. Vom Fenster desSeeblick, so heißt das Gasthaus mit Fremdenzimmern, sieht er auf Wald und See und Dorf. Es heißt Wildstätten, genau wie der See, an dem es liegt. Ein kleiner Ort mit einer Tauchschule. Deshalb ist er hier. Um es zu lernen. Und eigentlich ist Fassl schuld, sein Freund Franz Fassbinder, der jetzt bei der Polizei in Salzburg arbeitet und ihm in Wien schon fehlt. So viele Freunde hat Martin Glück nich