: Prof. Dr. Martina Leibovici-Mühlberger
: Wie wir unsere Kinder retten - und die Welt dazu 7 Impulse, um eine ganze Generation vor den Folgen der Corona-Krise zu bewahren
: GRÄFE UND UNZER
: 9783833882241
: Edition Gesellschaft
: 1
: CHF 15.30
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: Familie
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Konstantin, 5 Jahre, hat während Corona einen Waschzwang entwickelt, Selina, 12 Jahre, hat während der Pandemie in der Einsamkeit ihres Kinderzimmers den Kontakt zu allen Freundinnen verloren, Maria, 14 Jahre, hat während der Corona-Pandemie aufgehört zu essen. Geblieben ist Konstantins Waschzwang und Selinas Sozialphobie und Marias Eltern hoffen auf einen baldigen Therapieplatz zur Behandlung der Essstörung ihrer Tochter. Betrachtet man die derzeitigen Daten zur psychischen Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen, so könnte man zur Ansicht gelangen, dass hier eine verlorene Jugend heranwächst. Dabei könnten doch gerade die Erfahrungen der Pandemie zum Dreh- und Angelpunkt dafür werden, dass nun eine besonders starke und selbstbewusste nächste Generation heranreift, die mit ruhigem Geschick und Umsicht später das Ruder übernehmen wird. Wir müssen sie nur richtig begleiten. Österreichs bekannte Ärztin, Psychotherapeutin und Erziehungsexpertin berichtet aus ihrer Praxis, analysiert in diesem Buch die Auswirkungen der Coronakrise auf die Kindesentwicklung in allen Altersstufen und setzt klare Leitlinien für eine Erziehung, durch die unsere Kinder gleichzeitig zu Gewinnern und Errettern des Globus werden können.

Martina Leibovici-Mühlberger ist eine der bekanntesten Psychotherapeutinnen und Ärztinnen Österreichs. Sie ist Besteller-Autorin und als Beraterin für Politik- und Bildungsinstitutionen tätig.

Was Corona unseren Kindern angetan hat


Eigentlich hatte ich vorgehabt, in der kurzen Mittagspause meines Praxisalltags in den nahen Park zu eilen, um die Sonnenstrahlen eines der ersten wirklichen Frühlingstage im März in mich aufzusaugen. Irgendwie war es seltsam, aber dieses Jahr spürte ich ein ganz besonderes Bedürfnis nach der Wärme des Erwachens der Natur. Der Wunsch schien mir von ganz tief drinnen zu kommen, so als würde ich mich meiner eigenen Lebendigkeit vergewissern müssen. Frühjahr 2021, mehr als ein Jahr Pandemie fordert eben seinen Tribut. Doch dann kam alles anders, als ich es mit naiver Leichtigkeit geplant hatte.

Auf den ersten Blick wirkte der Park so wie immer um diese Jahreszeit. Die Zweige waren zwar noch winterkahl, aber bereits mit fühlbarem Bersten an den äußersten Spitzen gefüllt, und die milde Luft gab eine leise Vorahnung auf den nächsten Sommer. In Beeten hatten sich Märzenbecher ans Licht gekämpft und boten ersten Insekten Landeplatz und Labung. Eigentlich perfekt, die Szenerie. Doch im Nachhinein betrachtet, erscheint mir jene Begebenheit, die ich in dieser Idylle erlebte, wie die mögliche Gestaltwerdung zukünftigen Unheils, ganz so, wie sich dem Augur Spurinna einst am Vogelflug eröffnet hatte, dass an den nahenden Iden des März Roms größtem Herrscher Gaius Julius Cäsar der Tod bevorstünde.

Der Anlass hätte banaler nicht sein können, die Wirkung nicht erschreckender. Außer mir sind nur wenige Besucher im Park, vor allem einige Mütter mit Kinderwagen. Ein Kleinkind, das sich im Alter wohl gerade zwischen seinem zweiten und dritten Geburtstag bewegt, sitzt in seiner jagdgrünen Gummihose da, vertieft in sein Spiel, in der flachen Sandkuhle. Allerlei leuchtend buntes Plastikspielgerät liegt griffbereit. Mit Rechen, Schaufel und Kübel scheint der Bub hier auch schon einige Vorarbeit geleistet zu haben. Nun beginnt er einen Monstertruck mit passender Bereifung auf seinem Parcours zu bewegen, wobei er neben ihm her kriecht und das Motorengeräusch laut nachahmt. Damit scheint er die Aufmerksamkeit eines etwas jüngeren Kindes erregt zu haben. Mit torkelnden Schritten setzt es sich in Richtung des Buben in Bewegung, um sich neben ihm niederzulassen und nach dem Truck zu greifen. Das ist allerdings nicht ganz nach den Plänen des Truckfahrers, der seinen Unwillen durch entschlossen abwehrende Äußerungen sowie mit dem deutlichen Wegschieben des Gegenübers vom Spielzeug zum Ausdruck bringt. Der jüngere Knirps schnappt sich daraufhin den roten Sandkübel und greift nach der dazu passenden Schaufel. Doch der energische Truckpilot hat augenscheinlich im Unterschied zum jüngeren Kind bereits ein solides erstes Verständnis von Besitz entwickelt, zumindest was den eigenen angeht, und erlebt hier einen Raubversuch. Dass so etwas Widerstand und Strafe verdient, liegt auf der Hand – auf genau derselben, die dem Räuber entschlossen ins Haar fährt und sich dort festkrallt.

In dem Moment, als beide Kinder ineinander verkeilt sind, werden ihre Mütter aufmerksam. Jene des älteren Jungen war wohl zuvor durch das Geschwisterchen im Buggy abgelenkt gewesen, die des jüngeren Buben durch ihr Handy, das sie auch jetzt noch fest umklammert und wie einen Schild in die Höhe hält. Mit raschen Schritten ist die erste Mutter bei ihrem Sohn und reißt ihn vom anderen Kind weg, als gälte es, ihn vor den Zähnen eines Raubfisches zu retten. „Können Sie nicht auf Ihr Kind aufpassen?“, herrscht sie die ebenfalls in der Zwischenzeit bei ihrem Sohn angelangte andere Mutter heftig an. Deren Kind sitzt nun vollkommen verdutzt im Sandbett und hält noch immer mit seinen patschigen Händen das Beutestücke fest umklammert. Während seine Mutter unter heftigem Protest ihres Sprösslings seinen Griff lockert, Kübel und Schaufel demonstrativ neben den Truck stellt und ihr Kind ebenfalls zu sich hochnimmt, verteidigt sie sich: „Ist ja wohl nichts passiert! Sind doch Kinder.“

Für die erste Mutter scheint diese Antwort erst recht der Beweis dafür zu sein, dass die andere den Ernst der Lage nicht kapiert hat. „Abstand halten! Ist Ihnen das nicht klar?