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Der nächste Morgen beginnt für meinen Geschmack viel zu früh. Um halb acht gibt es ein schnelles Frühstück, obwohl heute Feiertag ist. Die Erwachsenen sind sich einig: Wir haben nur ein paar Tage Zeit und das Haus ist voller Gerümpel, darum fangen wir früh an. Also verlassen wir um kurz nach halb neun als gesamte Familie die Pension. Wieder gehen wir zu Fuß. Als wir beim Haus von Frau Ohl in der Bachstraße 9 ankommen, parkt der VW Geländewagen schon vor dem Haus. Die Haustür steht offen, Herr Dumpferl ist drinnen.
Nach einer kurzen Begrüßung teilen sich die Erwachsenen auf: Mama und Papa beschließen, in den Unterlagen im Arbeitszimmer nach etwas Brauchbarem zu suchen. Nina nimmt sich das Schafzimmer vor. Opa und Margret tigern wie die Schatzsucher einfach im Haus herum und suchen nach Dingen, die ihnen wertvoll erscheinen. Alte Fotos, Schmuckkästchen, wertvolle Kristallgläser und andere Sachen. Wir Kinder sollen uns in der Zwischenzeit draußen beschäftigen.
„Los, wir gehen in den Garten und spielen Fangen!“, schlägt Finn vor und rennt schon nach draußen.
Als ich zur Haustür rausgehe, drückt mir Lasse einen Zettel aus seinem Blöckchen in die Hand. „Hier, Ben. Eine geheime Botschaft. Aber – pssst!“
Ich schaue auf den Zettel und sehe nur eine Menge Buchstaben wild auf dem Blatt verteilt. „Was soll das heißen?“, frage ich.
„Wie gesagt, eine geheime Botschaft“, erklärt mir Lasse mit verschwörerischer Stimme. „Die dürfen die anderen Kinder nicht lesen!“
„Und wie soll ich die entschlüsseln?“
„Du musst die Buchstaben in der richtigen Reihenfolge lesen!“
„Hast du wieder versucht rückwärts zu schreiben?“
„Nein, das wäre doch viel zu einfach!“
„Sondern? Wie denn?“
„Na, die Buchstaben sind durcheinander gemischt!“
Da hat er allerdings recht. Die Buchstaben sind kreuz und quer durcheinander, als hätte jemand eine Buchstabensuppe abgemalt. Zwei A, zwei N, ein O … insgesamt zähle ich 17 Buchstaben. Einzig ein SCH ist so nebeneinander geschrieben, dass man sich denken kann, das gehört zusammen.
„Woher soll ich denn wissen, welches die richtige Reihenfolge ist?“, frage ich.
„Indem du sie richtig liest!“ Lasse beugt sich über den Zettel in meiner Hand. „Schau. Mit K geht es los. Dann …“ Er fährt mit seinem Finger vom K bis zum O, das an einer ganz anderen Stelle auf das Blatt gekritzelt ist. „… dann O … dann M …“ Da sind keine Linien auf dem Blatt. Mir ist schleierhaft, wie einer darauf kommen soll, dass K-O-M die ersten drei Buchstaben sind. „Also heißt das erste Wort? Na?“
Ich zucke mit den Schultern. „Kom?“
„Ja, genau! Komm!“
„Komm? Das wird mit zwei M geschrieben.“
„Ach, wirklich? Na, egal.“ Lasse fährt weiter mit seinen Fingerchen über das Blatt. „Nach dem M kommt also noch mal das M … da nehmen wir das Gleiche einfach noch mal … und dann … ähm … ein W … kapierst du es jetzt?“
„Nee. Keine Ahnung. Woher weiß ich denn, welcher Buchstabe nach dem W kommt, wenn du es mir nicht mit deinen Fingern zeigst?“
„Indem du einfach den richtigen Satz liest!“
„Aber ich kenne den Satz doch gar nicht!“
„Klar! Er steht doch hier auf dem Blatt!“
„Ja, aber doch völlig durcheinander!“
„Natürlich! Das ist ja auch Geheimschrift!“
Der Junge macht mich fertig.