Mein erstes Nahtoderlebnis habe ich mit vier Jahren. Mein Dad sitzt am Lenkrad, als plötzlich die Bremsen versagen und wir den Himalaja hinunterstürzen.
Ich sitze entspannt auf der Rückbank, hoch über den Wolken, und betrachte die glänzenden Knöpfe meiner hellroten Latzhose. Latzhosen werden völlig unterschätzt, wie ich finde. Je nachdem wie man gerade drauf ist, braucht man nicht mal ein T-Shirt drunter. Man zieht sie einfach hoch, hakt die Träger ein, und schon kanns losgehen.
Als ich einen Blick nach draußen werfe, bemerke ich, dass die Landschaft in enormem Tempo vorbeirast. Links von mir sitzt meine Schwester Chiara mit offenem Mund, hinter ihr sind die steilen, dunklen und Furcht einflößenden Felshänge zu sehen. Rechts von mir, hinter meinem Bruder Frank, der den Kiefer zusammenpresst, ist, wo die schmale Straße jäh ins Nichts abfällt, nur weiter blauer Himmel.
Vor uns sitzen unsere Erzeuger.
Ich lehne mich vor, um an ihrem Gesichtsausdruck abzulesen, wie beunruhigt ich sein sollte. Mom hat zur Abwechslung den Gurt angelegt, und an Dads gebräunten Händen am Lenkrad treten die Knöchel weiß hervor. Ein altes Auto kommt uns entgegen und hupt, als Dad dicht am Abgrund entlangkurvt und in letzter Sekunde einen Zusammenstoß verhindert.
Vor uns taucht eine unübersichtliche Kurve auf. Ich höre, wie Dad auf die Bremsen steigt und ein beunruhigendes Quietschen unter dem Fahrgestell unseres Autos ertönt. Im nächsten Moment werde ich seitlich auf Chiara geschleudert, die mich fest in ihren Schoß drückt, während Frank meine wild um sich tretenden Beine packt und meinen Knöchel zu fassen bekommt. Einen Moment lang greifen die Reifen wieder, und wir werden langsamer. Ich spüre, wie sich Chiaras Muskeln entspannen, da schießt der Wagen plötzlich nach vorn, die Bremsen versagen, und wir rasen bergabwärts und bekommen gefährlich Schwung.
»Da! Da ist es flach!«, schreit Mom. Es muss echt ernst sein, denn sonst gibt sie nie Anweisungen, wenn Dad fährt. Als wir von der asphaltierten Straße abkommen und unkontrolliert auf Felsen aufprallen, wirft sich Frank schützend auf mich. Mit einem metallischen Quietschen schert unser Auto seitwärts aus, bleibt in einem Loch stecken und kommt dankenswerterweise abrupt zum Halten.
Nachdem Chiara ihren Schraubstockgriff gelockert hat, setze ich mich auf und huste von all dem aufgewirbelten Staub, der durch das offene Fenster hereinweht. Wir sind mitten in einem kleinen Dorf gelandet, wo wir beinahe die Wäscheleinen mit der zum Trocknen aufgehängten Wäsche platt gewälzt hätten. Um uns herum hellbraune Erde, ein paar Holzhütten und Hühner, die vor lauter Schreck über unser unverhofftes Auftauchenpock-pocken. Den Hühnerstall kann ich bis hierher riechen. Eine Ziege, die an einem Pflock vor einem Gebäude mit einem schiefen rot-weißen Coca-Cola-Schild angebunden steht, blinzelt heftig und ist sichtlich ebenso perplex wie wir.
Das abblätternde Schild, das uns mit »Drink Coca-Cola!« zum Trinken auffordert, ist der einzige Farbklecks in der Landschaft. Hier oben auf dem Dach der Welt wirkt es genauso fehl am Platz wie wir.
Nachdem Mom sich vergewissert hat, dass wir noch leben, verlassen wir fluchtartig das Unfallauto und atmen gierig die dünne, herrlich klare Luft ein. Aus einem der Häuser kommt ein Junge von ungefähr 16 Jahren – so alt wie Chiara – barfuß über den Schotter herbei, gefolgt von einem älteren Mann.
Ich streiche meine zerknitterte Latzhose glatt: Im Leben zählt schließlich der erste Eindruck.
Das Erste, was mir an den beiden – vermutlich Vater und Sohn – wie bei allen Leuten in Kaschmir auffällt, sind i