Deborah B. Stone
Nur ein nutzloser Flügel
Gold-orange schwebten die von der Morgenröte getupften Wolken unter ihr, als Ariyah sich mit kräftigen Flügelschlägen in den Himmel schraubte, höher und höher hinauf.
Der Wind blies ihr das lavendelblaue Haar aus dem Gesicht und brachte die feine und doch so robuste Membran ihrer Flügel zum Beben. Ein wohliger Schauer lief von ihren Handgelenken, wo die schimmernden Flughäute ansetzten, bis zu den unteren Rippenbögen, an denen sie endeten. Ihr gesamter Körper vibrierte im Einklang mit der Kraft des Windes.
Was könnte schöner sein als Fliegen?
Ihr blieb noch Zeit, bis sie ihren Wachdienst antreten musste. Zeit, in der sie den neuen Tag begrüßen konnte, wie es ihr beliebte, um mit dem Wind zu spielen, der jeden Muskel ihres Körpers vor Lebendigkeit prickeln ließ. Ariyah beendete ihren Aufstieg und setzte zum Sturzflug an, die Flügelarme eng an den Körper geschmiegt. Erst auf der Höhe des gezahnten Felskammes glitt sie in einen sanfteren Sinkflug, denn in der Nähe der Felsen gab es unberechenbare Aufwinde, die ihre volle Konzentration erforderten. Schon spürte sie die schattige Kühle und die strudelnden Winde, die durch die Felsen bliesen und an ihren Flughäuten zupften. Das Geheimnis bestand darin, gerade um so viel zu verlangsamen, dass sie nicht gegen die Felsen prallte, aber genug Schwung behielt, um nicht zum Spielball der Zuglüfte und Aufwinde zu werden. Doch Ariyah gehörte zu den begabtesten jungen Wächterinnen, sie ritt die Lüfte, seit sie demStaubalter entwachsen war und hielt sich seitdem nur zum Schlafen und Essen auf dem Erdboden auf.
Nun näherte Ariyah sich einer Felskuppe. Vor wenigen Wochen hatte sie hier einen Steinadler-Horst entdeckt. Die riesige Vogelmutter wachte scharfäugig über ihre Brut, doch Ariyah ließ es sich nicht nehmen, bei ihren Flügen regelmäßig vorbeizusehen. Es musste ihr doch noch einmal gelingen, einen Blick auf die kleinen Federbälle zu erhaschen, die dort zu Königinnen und Königen der Lüfte heranwuchsen.
Heute war es unruhig im Nest. Ariyah wurde mit Gekrächze und Flügelschlagen empfangen. Doch nicht sie selbst war der Grund für die Aufregung: Zwei der Steinadlerküken hackten mit ihren scharfen Schnäbeln auf das dritte im Nest ein. Schon war sein flaumiges Federkleid blutverklebt. Noch wehrte es sich, doch während Ariyah zusah, erlahmte sein Widerstand sichtlich. Es war nur eine Frage von wenigen Augenblicken, bis es der Übermacht erliegen würde. Mit letzter Kraft gelangte es auf den Rand des Nestes, wankte einen Moment auf dem Ring aus Zweigen und verlor dann den Halt. Es stürzte in die Tiefe. Kläglich schlug es mit den Stummelflügeln. Ohne die Schwungfedern, die ihm erst in einigen Wochen wachsen würden, war es noch völlig flugunfähig.
Ariyah ließ alle Vorsicht fahren. Ungebremst jagte sie die letzten Meter auf die Felskante zu. Dabei steuerte sie einen Punkt unter dem Horst an und fing das wie ein Stein herabfallende Adlerkind auf. Sie schaffte es zwar, im letzten Moment abzudrehen, sodass ihr Kopf die Felse