: Laura Alt
: 9783959962001 Nouvelle Noire
: Periplaneta
: 9783959961998
: Edition Periplaneta
: 1
: CHF 7.10
:
: Erzählende Literatur
: German
: 92
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Irgendwo im Getriebe eines totalitären Systems bricht ein Mann die Regeln. Er kündigt, obwohl das eigentlich gar nicht möglich ist. Auf seiner Suche begegnet er Gestalten mit verschiedenen Bewältigungsstrategien und Lebensentwürfen, von Zirkusartisten über Gottesanbeterinnen bis hin zu Terroristen. Doch einen Sinn im Sein zu finden, scheint in dieser Welt unmöglich. Und der Staat ist ihm längst auf den Fersen. In ihrer Nouvelle Noire kündet Laura Alt von einer ominösen und düsteren Zukunft, die ihre unverhohlenen Zeichen bereits in unsere Gegenwart gegraben hat.

Laura Alt ist in Mainz und Freiburg im Breisgau aufgewachsen und hat sich irgendwann von dort nach Berlin abgesetzt, wo die Winter zwar genauso kalt sind, aber keine Fastnachtsfeiern beinhalten. Dort hat sie 2019 ein Volontariat bei Periplaneta absolviert und in dessen Verlauf angefangen, Lesebühnentexte und Kolumnen zu schreiben. Aktuell lebt und studiert sie in Basel und ist Kapitänin des Periplaneta-Imprints Edition Subkultur.

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Feierabend. Endlich. Der Mann räumte eine angebissene Orangenhälfte in die Brotdose, loggte sich aus, griff erst nach der schwarzen Umhängetasche und dann nach der Krücke, die zu seiner Linken am Schreibtisch lehnte. Sie stach heraus aus all dem Glas, Carbon, Beton und grellen Neonlicht, zwischen all den blinkenden und brummenden Gerätschaften moderner Technologie, die ihn hier umgaben. Ein altes Stück aus abgegriffenem Holz, das schon tausend andere zitternde Hände krampfhaft umklammert hatten. Die Hände tausend anderer Jammerlappen, wie er einer war.

Die Woche war furchtbar gewesen. Erst der Börsencrash, dann die Insolvenzen der Wollmanufakturen in Nordirland. Und er hatte wieder aufräumen müssen, wütende Briefe beantworten und schluchzende Klienten am Fernsprechgerät beruhigen müssen. Darüber hatte er die Akte vergessen, und ja, deshalb humpelte er jetzt die 207 Treppenstufen vom Büro zur Straße hinunter, die eine Hand am grün lackierten Geländer, die andere auf dieses verabscheuungswürdige Symbol seiner Unfähigkeit gelehnt. Das Holz der Krücke knarzte gefährlich bei jeder Treppenstufe, jedes Mal, wenn er sein Gewicht darauf lehnte. Das Zeichen seines beruflichen Versagens. Und weil kein Geld da gewesen war, auch noch dieses äußerst indiskrete Modell. Aber weil kein Geld da war, war sie ja überhaupt nur von Bedarf. Die anderen, die Manager und Etagenleiter, die bauten auch öfter Mist. Nur ließ deren abstammungsbedingter Kreditrahmen dann den Erwerb einer diskreten und kaum bemerkbaren Prothese zu. Eine Zwischenlösung, mit der sie ihrer Arbeit weiter nachgehen und ihre soziale Stellung sichern konnten. Er hingegen, diese verdammte Akte, hatte diese Mittel nicht. Und so war sein linkes Bein nach geltendem Arbeitsrecht eben gepfändet worden.

Immerhin hatten sie ihm am Vortrag eine Zwölf-Stunden-Frist gewährt. Sieben von denen hatte er dann damit verbracht, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln durch Gebiete am Stadtrand zu eiern und ein möglichst billiges Ersatzteil zu besorgen.

Aber der Crash hatte viele seiner Mitstreiter in dieser dreckigen, dampfenden Stadt ebenfalls erwischt, unglücklicherweise wohl einige Stunden vor ihm. Deshalb waren Convenience-Modelle ausverkauft und der tagesaktuelle Kurs für High-End-Produkte, eben jene, die seine Chefs benutzten, unerschwinglich gewesen. Und somit war diese elende Holzkrücke die einzige Alternative, die er finden konnte – natürlich in einem Laden, der so weit weg von der Innenstadt lag, dass er mit dem Geld fürs heutige Mittagessen noch ein Sammeltaxi hatte ordern müssen, um pünktlich am Schiedsgericht zu erscheinen. Vor der spottenden, grölenden Menge von Arbeitslosen, die sich zu diesem Zweck und für eine warme Suppe täglich dort einfanden, hatte er die weiße Marmortreppe vor dem Gericht erklimmen müssen, wo schon eine Reihe Beamter auf ihn gewartet hatte.

Daraufhin hatte er die Schrauben seines linken Beines eigenhändig zu lösen und das klirrende Geräusch des Abtrennens von seiner Hüfte in Kauf zu nehmen, bevor das Bein penibel etikettiert mit seiner pers