: Mordecai Richler
: Eine Straße in Montreal
: ars vivendi
: 9783747203217
: 1
: CHF 13.40
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mordecai Richlers autobiografisches Meisterwerk erstmals in deutscher Übersetzung In zehn charmanten, tragikomischen, ergreifenden Episoden erzählt Mordecai Richler von seiner Kindheit und Jugend in der jüdischen Welt von Montreals St. Urbain Street: Von dem Sommer, in dem die Großmutter eigentlich hätte sterben müssen, aber nicht starb. Von Herrn Bambinger, dem Wiener Juden, der jeden Tag auf das Schiff wartet, das Frau und Sohn vor den Nazis in Sicherheit bringen soll. Von Benny Garber, dem zurückgebliebenen Nachbarsjungen, der aus dem Krieg in Europa heimkehrt und doch nicht mehr ins Leben findet. Und davon, wie einmal ein Times- Artikel über einen Atomspion das Universum der St. Urbain Street erschütterte. Humorvoll, tragisch, weise und voller Nostalgie: ein Meisterwerk der literarischen Erinnerung.

MORDECAI RICHLER, als Sohn eines Schrotthändlers 1931 in Montreal geboren, ist einer der bedeutendsten kanadischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Nach einem abgebrochenen Literaturstudium lebte er als freier Schriftsteller und Kolumnist in Paris und London. Anfang der Siebzigerjahre kehrte er in seine Heimatstadt zurück, wo er bis zu seinem Tod 2001 lebte.

 

Vorwort: Die Heimkehr

»Warum wollen Sie auf die Universität?«, fragte mich der Studienberater.

Ohne nachzudenken antwortete ich: »Vermutlich, weil ich Arzt werden möchte.«

Arzt.

Eines Tages hatte man uns in der St. Urbain Street Gitterbettchen und Windeln brutal weggenommen, und am nächsten wurden wir abgeschrubbt und in den Kinder­garten verfrachtet. Ohne es damals schon zu wissen, waren wir in einer Vorbereitungsschule fürs Medizinstudium gelandet. Zwar wurde man normalerweise erst mit sechs eingeschult, doch pflegten gnadenlos ehrgeizige Mütter ihre protestierenden Vierjährigen zur Anmeldung zu schleppen und dort zu sagen: »Für sein Alter ist er noch etwas klein.«

»Geburtsurkunde, bitte?«

»Bei einem Wohnungsbrand vernichtet.«

In der St. Urbain Street bedeutete ein Vorsprung vor den anderen alles. Unsere Mütter lasen uns ausLife Berichte über pickelige astigmatische Vierzehnjährige vor, die bereits ein Harvard-Studium abgeschlossen hatten oder die Professoren am Massachusetts Institute of Technology aus der Fassung brachten.Tip Top Comics zu lesen oder am RadioThe Green Hornet zu hören war gleichbedeutend mit der Bitte um einen Schlag auf den Kopf, der manchmal mittels einer zusammengerollten Ausgabe vonThe Canadian Jewish Eagle verabreicht wurde, als ob dies allein schon Nahrung fürs Gehirn wäre. Auf gar keinen Fall sollten wir die Schlagdurchschnitte von Baseballern oder schweinische Limericks auswendig lernen. Man erwartete, dass wir unseren Wortschatz mithilfe desReader’s Digest vergrößerten und uns von Paul de Kruifs Biografien berühmter Naturforscher und Ärzte inspirieren ließen. Schafften wir es nicht, richtige Mediziner zu werden, sollten wir zusehen, dass es wenigstens zu einer Dentistenausbildung reichte. Schulnoten zählten nicht so viel wie Platzziffern. Einmal kam ich im Winter nach Hause, die Nasenlöcher zugefroren, die Ohren vor Kälte bitzelnd, und präsentierte stolz mein Zeugnis. »Ich bin der Zweitbeste, Mama.«

»Und wer ist der Beste, wenn ich fragen darf?«

Das war dummerweise Mrs. Klingers Sohn. Und schon läutete das Telefon. »Ja, ja«, sprach meine Mutter zu Mrs. Klinger, »herzlichen Glückwunsch, und was hat eigentlich der Augenarzt wegen ihrer Riva gesagt, diesem armen Ding, dass sie in ihrem Alter schon eine Fehlstellung hat, und ob sie die korrigieren können …«

Die Konfessionsschule war ein gemischtes Vergnügen. Unsere Hebräischlehrer waren alte, schlecht bezahlte, meist griesgrämige und ungeduldige Männer. Ohrläppchenverdreher und Kopfnussverteiler. Sie mochten keine Kinder. Doch die für den englischsprachigen Teil unserer Ausbildung zuständigen jungen Dinger waren reizend, erfrischend modern und machten sich Gedanken um unsere Zukunft. Sie erzählten uns von El Campesino, erklärten, dass John Steinbeck die Wahrheit schrieb, und lasen uns Saccos Rede vor Gericht vor. Wenn eine der jüngeren und unverheirateten Lehrerinnen schon morgens in der ersten Stunde geschafft aussah, bestätigten wir uns gegenseitig, dass sie es in der ve