: Elsa Fernandez
: Fragmente über das Überleben Romani Geschichte und Gadje-Rassismus
: Unrast Verlag
: 9783954050895
: 1
: CHF 10.80
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 187
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
?Die ?Fragmente über das Überleben? schaut aus einer romani-Perspektive auf Gadje-Rassismus, Zeug*innenschaften und die Schöpfungen unterschiedlicher Sprachformen über das Überleben. Es ist ein Versuch, Geschichten von Überlebenden zusammenzudenken, ohne Vergleiche anzustellen und Opferkonkurrenz zu erzeugen. Der gesellschaftliche Umgang mit Zeug*innenschaften ist durch Entpolitisierung geprägt, durch Verschweigen und Verleugnen. Elsa Fernandez dekonstruiert institutionalisierte Diskurse über individuelle und kollektive Traumata und macht Formen des Revisionismus und der Unschuldsinszenierungen sichtbar. Wenn sie nicht länger von Klassismus, Ableismus, Rassismus, Transfeindlichkeit und all den anderen Formen der Unterdrückung zum Schweigen gebracht würden, könnten die Subversivität, Kraft und Schönheit der Positionen der Überlebenden vielleicht den gesellschaftlichen Rahmen sprengen. Fragmente über das Überleben möchte diese Positionen würdigen. »?Die ?Fragmente über das Überleben? sollten Standardlektüre sein für Studierende der Sozial- und Geisteswissenschaften.« - Sémil Berg, analyse& kritik »Die Autorin hat mit dem Buch ein Beitrag zur Aufdeckung der Gewalt-Geschichte geleistet ... « - Marlene Pardeller, salto.bz

Elsa Fernandez ist in Südfrankreich aufgewachsen, lebt in Berlin und hat hier in mehreren romane Projekten gearbeitet (u.a. im Rroma Info Centrum und im Archiv RomaniPhen). Für das Buch »Gespräche über Rassismus« von Zülfukar Çetin und Sava? Ta? hat sie ein Interview über »Gadje-Rassismus und Erinnerung« gegeben und für das Online-Buch »Perspektiven und Analysen von Sinti und Roma in Deutschland« von Jane Schuch und Isidora Randjelovi? einen Text über den Pharrajmos geschrieben.

Einleitung


Wenn wir gut hinhören, können wir Zeug*innenschaften überall im Alltag hören: in den Worten der Kinder und Erwachsenen, im unmittelbaren ›Sich-Selbst-Erzählen‹, das aus Zeichen, Schriften, Gesten oder Tönen besteht. Die Dringlichkeit des Sprechens über überlebte Katastrophen und das zwingende Bedürfnis zu bezeugen prägen das ganze Leben.

Manchmal gibt es Dinge, die wir (auch ohne es zu wissen) unbedingt sagen wollen. Sie sind unendlich, kehren immer wieder, sind auf der Suche nach Orten, Ansprechpartner*innen oder Materien. Die Versuche des ›Sich-Selbst-Erzählens‹ werden jedoch oft übersehen, überhört, ignoriert und allein gelassen.

Bestimmte Leben und Worte werden von majorisierten[1] Menschen und Gruppen überhört und negiert. Diese verschweigen, verleugnen und verleumden die Gegenwart von Erzählungen, Recherchen, Verletzungen und des Bezeugens unterdrückter Geschichten. Hegemonie und Unsichtbarmachung verdecken minorisierte[2] Geschichten. Sie verdecken auch, was Menschen zu sagen haben. Die Fragen »Wer bist du?«, »Wie nennst du dich?« oder »Wie ist deine Geschichte?« werden im Westen selten mit Langsamkeit und Geduld gestellt.

Überlebensgeschichten werden meistens erst dann angehört und wahrgenommen, wenn in der majorisierten Gesellschaft die Bedingungen dafür vorhanden sind: wenn die Gefährlichkeit der unterdrückten Aussagen entschärft wurde oder ein langwieriger Kampf um Anerkennung das Ignorieren seitens der Majorisierten entkräftet hat. Unsichtbarmachungen haben mit Klassismus, Ableism, Rassismus, Heteronormativität, Transfeindlichkeit und allen anderen Diskriminierungsformen zu tun. Sie sind bewusste oder internalisierte Handlungen, die auf alltäglichen, ökonomischen, politischen und sozialen Ebenen stattfinden. Erzählungen, Wissen und Geschichtenwerden minorisiert oder majorisiert; Machtverhältnisse, Institutionen und Menschen machen etwas mit ihnen. Sie existieren nicht an sich, sind weder unabhängig von den Menschen, die sie hervorrufen und weitertragen, noch von den majorisierten Menschen, die diese unterdrücken.

Dieser Text handelt von romani Geschichte, von Gadje-Rassismus[3] und von anderen unterdrückten Geschichten. Er handelt auch vom Überleben und von unterschiedlichen sprachlichen Schöpfungen darüber. Was bedeutet Überleben? Was ist Überleben in einer von Gewalt, Ungleichheit und Repression geprägten Gesellschaft? Wie wirkt sich Überleben auf Überlebende und auf die Gesellschaft aus? Für meine Analyse verknüpfe ich unterschiedliche Herangehensweisen an das Überleben. Dabei konzentriere ich mich auf individuelle und kollektive Formen des ›Jemanden-‹ oder ›Etwas-Überlebens‹ – das Überleben von Unterdrücker*innen, Rassismus und Genoziden.

Ich weiß wirklich nicht, wann ich das erste Mal das Wort ›Gadje‹ gehört habe. Ich weiß auch nicht, wann ich als Kind verstanden habe, dass ›Gadje‹ ein kollektives Wort ist. Ich habe das aber sehr früh gewusst, wie eine geteilte Spur. Aufgrund einer kollektiven Verfolgungsgeschichte habe ich in meinem Umfeld das Wort ›Faschismus‹ häufiger gehört als die Wörter ›Gadji, Gadjo, Gadje‹. Und als ich ungefähr acht war, haben mich meine Großeltern gefragt, wie ich ›Faschismus‹ schreiben würde. Sie haben das Wort die ganze Zeit gesagt, aber nie geschrieben.

›Gadje‹ ist ein kollektives Wort über andere Gruppen, ein Romanipe[4]-Wort. Diese (nicht zwingend abwertende) Benennung bezeichnet jede Person ohne romani Geschichte oder Gegenwart. ›Gadje‹ ist, soweit ich weiß, transnational, transhistorisch und in vielen romane Sprachen und Communitys präsent.[5] Der Begriff ›Gadje-Rassismus‹ ist mein Vorschlag[6], um aus einer romani Perspektive d