I. Historischer Kontext
1.Sinn und Unsinn einer historischen Darstellung
Die historische Auslegung steht nicht isoliert neben anderen Auslegungsmethoden, sondern ergänzt und stützt sie.26 Wie einzelne Buchstaben erst zusammen ein Wort ergeben und erst das Zusammenspiel von Prädikat und Subjekt einen Satz ergibt, so lassen sich Gesetze erst verstehen, wenn man neben Wortlaut, Systematik und Telos den Kontext ihrer Entstehung nachvollzieht. Es geht dabei weniger um „neue“ historische Erkenntnisse, als vielmehr um die Einordnung der Norm in einen Zeitkontext. Ein umfangreicher historischer Exkurs ist nur dann sinnvoll, wenn damit tatsächlich ein Mehrwert für die Auslegung und die Lösung eines rechtlichen Problems verbunden ist. Es muss sich um Informationen handeln, die zum Verständnis einer Norm unabdingbar sind. Unbestritten kann die Betrachtung der Geschichte das Verständnis schärfen. Manchmal ist die historische Auslegung sogar der einzige Zugang zum Verständnis einer Norm. Sie sollte aber kein seitenfüllender Selbstzweck sein. Die Geschichte kann nur Ausgangspunkt, aber nicht Ziel einer methodischen Annäherung an den objektiv gültigen Sinn eines Rechtssatzes sein.27 Andererseits ist zu beachten, dass der Wille des historischen Gesetzgebers sich meist abschließend im Normtext manifestiert hat.28 Es folgt somit nur ein kurzer Abriss einiger wesentlicher historischer Schritte. Diese sind Grundlage für den Zugang zum Sozialrecht allgemein und speziell zum Insolvenzgeld. Am Ende dieses Exkurses werden einige Erkenntnisse stehen, die auch für die zukünftige Ausrichtung des Insolvenzgelds interessant sind.
2.Vom Konkursausfallgeld zum heutigen Insolvenzgeld
Die Regelung, damals noch in §§ 141a bis 141n AFG normiert, begründete erstmals den sozialversicherungsrechtlichen Schutz der Arbeitnehmer für den Fall der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers. Grundlage war das 3. AFG-ÄndG vom 17. Juli 1974.29 § 141b AFG regelte dabei die Insolvenzereignisse (Eröffnung des Konkursverfahrens, Abweisung mangels Masse, Beendigung der Betriebstätigkeit), während § 141a AFG Konkursausfallgeld folgendermaßen legaldefinierte:„Arbeitnehmer haben bei Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers nach diesem Unterabschnitt Anspruch auf Ausgleich ihres ausgefallenen Arbeitsentgeltes (Konkursausfallgeld).“30
Die Einführung wurde kurze Zeit später im Jahre 1980 durch die Richtlinie des Rates der EWG 80/987 vom 20. Oktober 1980 überholt. Damit wurden alle Mitgliedstaaten der damaligen EWG durch die Richtlinie europarechtlich verpflichtet, entsprechende Garantieeinrichtungen zu schaffen. Diese sollten sicherstellen, dass Arbeitnehmer auch in der Insolvenz ihre Arbeitsleistung zumindest teilweise vergütet bekommen.31 Eine konkrete Höhe gab die Richtlinie nicht vor. Träger der deutschen Garantieeinrichtung ist die Bundesagentur für Arbeit, die – so jedenfalls die damalige Überlegung des Gesetzgebers – aufgrund der weit verzweigten Einrichtungen am besten in der Lage sei, eine zeitnahe Prüfung und Auszahlung zu gewährleisten.32 Die 1974 eingeführten Normen galten im Wesentlichen inhaltlich unverändert bis zum 1. Januar 1999 fort.33 Als die Insolvenzordnung die Konkursordnung abgelöst hatte, wurden die Vorschriften in die §§ 183 bis 189 a SGB III implementiert. Dabei blieb der wesentliche Kernbereich der Regelungen erneut unangetastet.34 Mit dem Job-AQTIV-Gesetz vom 10. Dezember 2001 wurden die Normen dann hauptsächlich im Hinblick auf grenzüberschreitende Sachverhalte in § 183 Abs. 1 S. 1 und Abs. 1 S. 2 angepasst.35 Zudem wurden in S. 3 und 4 Vorschriften eingefügt, die spezielle Regelungen zum Arbeitszeitguthaben trafen. Auch hierbei blieben umfangreiche