New York, Juni2014
Vivien warf einen flüchtigen Blick durch die geöffnete Zimmertür ihrer Freundin und Mitbewohnerin. Das Bett war seit Monaten unbenutzt, und Vivien fragte sich, was für einen merkwürdigen Typen Kim da aufgegabelt hatte, dass sie so ein Geheimnis um diesen Mann machte. Mit dem Kerl musste doch etwas nicht stimmen. Selbst wenn er ein Prominenter sein sollte, warum weihte Kim sie nicht ein? Die Freundin wusste doch, dass sie kein Wort nach außen geben würde. Vivien kannte die Vorliebe ihrer Freundin für erfolgreiche ältere Herren, die meistens noch verheiratet waren und es in der Regel auch blieben. Wenn sie Kim das offenbarten, sobald für die Kerle der Reiz des Neuen vorüber war, weinte ihre Freundin jedes Mal bittere Tränen und trennte sich von den Männern. Kim suchte nämlich keine unverbindlichen Vergnügungen, sondern nach einem Partner, mit dem sie eine Familie gründen konnte. Vivien machte sich immer ein wenig lustig über Kims schlechtes Händchen. Sie schlug ihr vor, es zur Abwechslung mit einem Mann um die dreißig zu versuchen, der noch keine eigene Familie hatte, wenngleich sie diese Familienplanungen mit fünfundzwanzig sowieso für ein wenig verfrüht hielt. Aber Kim hat wenigstens Sex, ging es Vivien bekümmert durch den Kopf.
Seit ihre große Liebe Luca wieder zurück nach Australien gegangen war und sich kurz darauf neu verliebt hatte, hatte Vivien keinen Freund mehr gehabt, und das war nun bald ein Jahr her. Dabei interessierten sich einige junge Männer für sie, aber Vivien war entsetzlich altmodisch, was die Liebe anging. Entweder verknallte sie sich mit Haut und Haaren oder gar nicht. Etwas Halbherziges würde auch nicht zu ihr passen, denn Vivien war eine leidenschaftliche junge Frau, die alles, was sie anpackte, mit Begeisterung tat. So wie sie nach drei Semestern Jura an die Filmakademie gewechselt hatte, weil sie für die Schauspielerei brannte. Ihr Vater war komplett dagegen gewesen, aber ihre Mutter hatte sie unterstützt. Vivien kommt eben ganz nach ihrer Urgroßmutter, was das Showtalent angeht, hatte sie gemeint.
Ob Kim und ich uns voneinander entfremdet haben, weil ich Jura geschmissen habe?, fragte sich Vivien nachdenklich. Es machte sie wirklich unglücklich, dass der Kontakt zu ihrer einst besten Freundin so derart abrupt abgerissen war. Wenn sie sich zufällig in der Wohnung begegneten, wurde Kim jedes Mal furchtbar hektisch und gab vor, in Eile zu sein. Bei der letzten Begegnung dieser Art hatte Vivien das nicht einfach hingenommen. »Ich muss dringend mit dir reden. Du musst mir nicht den Namen deines Lovers nennen, aber mir bitte erklären, warum du mir ausweichst wie der Teufel dem Weihwasser.« Kim hatte ihr hoch und heilig versprochen, sich zeitnah telefonisch zu melden, damit sie einen Termin ausmachen konnten. Seitdem war sie spurlos verschwunden. Und das war inzwischen über drei Wochen her.
Das Geräusch der Türglocke riss Vivien aus ihren Gedanken. Ihr Vater teilte ihr über die Gegensprechanlage mit, dass er unten im Wagen auf sie warten würde. Im Grunde genommen wunderte sich Vivien über den Vorschlag ihres Vaters, mitten in der Woche mit ihr nach Coney Island zu fahren. Eigentlich trafen sie sich, wenn überhaupt, höchstens einmal im Monat auf einen hektischen Hamburger in der Stadt zwischen zwei Mandanten. Ihr Vater war immer in Eile. Sie kannte ihn gar nicht anders.
Vivien warf noch einen flüchtigen Blick in den Spiegel und strich sich eine Strähne ihrer dunklen Locken aus dem Gesicht. Es ist ein Wahnsinn, wie dunkel du geworden bist, pflegte ihre Mutter immer wieder erstaunt zu bemerken. Als Kleinkind war Vivien weizenblond gewesen, und dann war ihr Haar von Jahr zu Jahr immer dunkler geworden.
Vivien schloss die Tür hinter sich und stieg in den Fahrstuhl. Sie wohnte im achten Stock eines nicht besonders schönen Hochhauses und spielte mit dem Gedanken auszuziehen, jetzt, wo Kim sich ohnehin immer weiter von ihr entfernte. Unter diesen Umständen wäre es wohl besser, wenn sie sich nun auch räumlich trennten.
Ethan parkte mit seinem offenen Sportwagen direkt vor der Tür. Vivien begrüßte ihn mi