1. KAPITEL
„Dios mío!“, fluchte Gabriella del Toro leise. „Nicht mal mit einem Dosenöffner kann ich umgehen!“ Blut quoll aus dem Schnitt an ihrem Finger. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
Fragend blickte ihr Bodyguard Joaquin sie an.
„Alles in Ordnung“, beruhigte sie ihn schnell. „Ich habe mich nur an der Dose geschnitten.“ Dabei hatte sie lediglich eine Suppe für ihren Bruder Alejandro aufwärmen wollen. Das konnte doch nicht so schwierig sein. Allerdings hatte sie die Küche auf dem elterlichen BesitzLas Cruces westlich von Mexico City nur sehr selten betreten. Schließlich war die Köchin der Meinung, dass es unter der Würde der Dame des Hauses war zu kochen, selbst wenn diese „Dame“ erst zwölf Jahre alt war. Außer Tee und Kaffee konnte Gabriella nichts zubereiten, das heißt, ihre Tante, die Schwester ihrer Mutter, hatte ihr gezeigt, wie man Tortillas machte. Damals war Gabriella sieben gewesen. Das war jetzt zwanzig Jahre her.
Ihr Vater, Rodrigo del Toro, war einer der reichsten und mächtigsten Geschäftsleute Mexikos. Sie selbst war Schmuckdesignerin und Goldschmiedin, die aus Gold, Silber und Edelsteinen kleine Kunstwerke schuf. Aber im Augenblick, dachte sie verärgert, bin ich der typische Fall einer reichen Erbin, die nicht einmal eine Dose öffnen kann.
Da die Blutung nachgelassen hatte, ging Gabriella in Richtung Badezimmer, um sich ein Pflaster zu holen. Sofort war der Bodyguard aufgestanden und tat es ihr gleich. Seit sie dreizehn war, folgte Joaquin Baptiste ihr wie ein Schatten. So anstrengend das auch in mancher Hinsicht war – etwa wenn sie ein Date hatte –, war sie doch froh über seine Fürsorge. Manchmal hatte sie den Eindruck, ihr Glück sei ihm wichtiger als ihrem Vater oder Bruder. Während sie sich das Pflaster um den Zeigefinger wickelte, seufzte sie auf. Mit der Wunde konnte sie unmöglich die feinen Geräte bedienen, die sie für die Schmuckherstellung brauchte.
Aber hier konnte sie ja sowieso nicht arbeiten! Ihre Werkzeuge hatte sie inLas Cruces gelassen, auch weil sie davon ausgegangen war, dass sie sich nur kurze Zeit bei ihrem Bruder in Texas aufhalten würde.
Armer Alejandro, armer Papa! Entführungen waren in der Familie del Toro nichts Seltenes. Aber alle hatten geglaubt, dass Alejandro in Texas sicherer war als in Mexiko. Daher hatte Alejandro sich auch geweigert, seinen Bodyguard Carlos mitzunehmen. In Amerika brauche man so etwas nicht, hatte er gemeint. Und Rodrigo hatte schließlich nachgegeben. Sonst wäre der Sohn nicht nach Texas gegangen, um für den Vater Erkundigungen über eine Ölgesellschaft einzuziehen, die der Del-Toro-Konzern eventuell erwerben wollte.
Gabriella war immer noch überrascht, dass der Vater sich quasi hatte erpressen lassen und Alejandro erlaubt hatte, allein und wie ein Amerikaner zu leben. Zwei Jahre zuvor war Alejandro als Alex Santiago nach Texas gegangen, und sie hatte sofort begonnen, ihn um sein freies Leben zu beneiden. Zumal ihr Vater ihren Wunsch, ebenfalls nach Amerika zu ziehen, strikt abgelehnt hatte. Offensichtlich war die Tatsache, dass sie unter seiner und Joaquins Aufsicht bleiben musste, eine unerschütterliche Tatsache.
Letzten Endes war sie darüber sogar ganz froh gewesen, vor allem als die Nachricht von Alejandros Entführung sie erreicht hatte. Erstaunlicherweise gab es keine Lösegeldforderungen wie sonst in Mexiko üblich. Aber auch von Alejandro hatten sie nichts gehört – bis zu dem Zeitpunkt einige Wochen zuvor, als er zusammen mit illegalen Immigranten, die nach Amerika wollten, in einem Lastwagen an der Grenze aufgegriffen worden war. Offenbar war er von den Entführern nicht gerade sanft behandelt worden. Er hatte Blutergüsse und kaum verheilte Wunden.
Das Schlimmste aber war, dass er sein Gedächtnis verloren hatte und überhaupt nicht wusste, was in der Zwischenzeit mit ihm passiert war. Mittlerweile lebte er wieder in seinem Haus in Royal, einem kleinen Ort in Texas. Hin und wieder kam die Polizei, um sich nach seinem Zustand zu erkundigen. Aber da er sich noch immer nicht erinnern konnte, waren den Beamten die Hände gebunden.
Gabriella war darüber nicht glücklich. Sie hatte den Eindruck, dass man von offizieller Seite nicht energisch genug nach den Entführern suchte. Andererseits, was sollten sie tun, wenn Alejandro ihnen keinerlei Hinweise geben konnte? Meist saß ihr armer Bruder vorm Fernseher und guckte Fußball. Seltsam, er konnte sich an sein früheres Leben nicht erinnern, aber seine Liebe zum Fußball war geblieben. Er erkannte weder die Schwester noch den Papa, hatte zumindest keinerlei Reaktion