: Anne Boyer
: Die Unsterblichen Krankheit, Körper, Kapitalismus
: Matthes& Seitz Berlin Verlag
: 9783751803267
: 1
: CHF 16.10
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 280
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein wütendes Manifest gegen den Umgang mit Krankheit, ausgezeichnet mit dem wichtigsten amerikanischen Literaturpreis. Eine Woche vor ihrem 41. Geburtstag wird der preisgekrönten Dichterin Anne Boyer ein hoch aggressiver Brustkrebs diagnostiziert. Für die alleinerziehende Mutter, die sich von Scheck zu Scheck hangelt, ist diese katastrophale Erkrankung ein Anstoß, Sterblichkeit und die Geschlechterpolitiken von Krankheit neu zu denken. Boyer beginnt, sich schreibend mit dem Krebs und dem gesellschaftlichen Umgang damit auseinanderzusetzen. Die Unsterblichen ist zugleich erschütternder Bericht einer Überlebenden sowie eine groß angelegte Untersuchung von Krankheit im 21. Jahrhundert. Anne Boyer zieht antike Traumtagebücher zurate, analysiert die Kapitalisierung heutiger Gesundheitsversorgung, beschäftigt sich mit Verschwörungstheorien rund um Krebs, mit Schmerz und wie man über ihn sprechen kann, aber auch mit selbsternannten Doloristen, die den Schmerz befürworten, mit Krebsfetischisten und den Lügen großer Unternehmen; sie unterzieht John Donne einer erneuten Lektüre, erfährt, dass ihr Chemotherapie-Medikament vor über hundert Jahren als Senfgas in Produktion ging, und findet schließlich Antworten in der Literatur anderer Autorinnen, die über ihre Erkrankungen und den nahenden Tod geschrieben haben: Kathy Acker, Audre Lorde, Susan Sontag, Virginia Woolf. Alle Genregrenzen weit hinter sich lassend, hat Anne Boyer ein zutiefst berührendes und poetisches Buch über Krankheit im gegenwärtigen Kapitalismus geschrieben.

Anne Boyer, 1973 in Topeka, Kansas geboren, ist eine vielfach ausgezeichnete Lyrikerin und Essayistin. Ihr Buch Garments Against Women war einer der meistgelesenen Lyrikbände des Jahres 2015. 2018/2019 war sie Judith E. Wilson Fellow in Cambridge. Seit 2007 unterrichtet sie am Kansas City Art Institute. 2020 wurde sie mit dem Pulitzer-Preis für Die Unsterblichen ausgezeichnet. Daniela Seel, 1974 in Frankfurt am Main geboren, ist Verlegerin des unabhängigen Verlags kookbooks, Übersetzerin und Lyrikerin. Zuletzt erschien ihr Gedichtband Auszug aus Eden (Verlag Peter Engstler). Daniela Seel lebt in Berlin.

PROLOG


1972 dachte Susan Sontag über einen Essay nach, der »Über das Sterben von Frauen« oder »Frauentode« oder »Wie Frauen sterben« heißen sollte. In ihrem Tagebuch findet sich unter dem StichwortMaterial eine Liste mit elf Toden, darunter der Tod von Virginia Woolf, der Tod von Marie Curie, der Tod von Jeanne d’Arc, der Tod von Rosa Luxemburg und der Tod von Alice James.1 Alice James starb 1892 mit 42 Jahren an Brustkrebs. In ihrem eigenen Tagebuch beschreibt sie den Tumor als »diese unheilige granitene Substanz in meiner Brust«.2 Sontag zitiert die Passage später inKrankheit als Metapher, dem Buch, das sie nach ihrer eigenen Brustkrebsbehandlung, diagnostiziert 1974 mit 41 Jahren, schrieb.3

Krankheit als Metapher nimmt Krebs nicht persönlich. Sontag schreibt »ich« und »Krebs« nicht im selben Satz. Bei Rachel Carson wird 1960 Brustkrebs festgestellt, als sie anSilent Spring arbeitet, einem der wichtigsten Bücher zur Kulturgeschichte von Krebs. Sie ist 53 Jahre alt. Auch Carson spricht nicht öffentlich über den Krebs, an dem sie 1964 stirbt.4 Tagebucheinträge aus der Zeit von Sontags Krebsbehandlung sind rar, und den wenigen, die sich finden, merkt man an, wie stark Brustkrebs das Denken beeinträchtigt, insbesondere durch die Chemotherapie, die schwere und langfristige kognitive Schäden verursachen kann. Im Februar 1976, während ihrer Chemotherapie, notiert Sontag: »Ich brauche eine mentale Turnhalle.«5 Der nächste Eintrag folgt Monate später, im Juni 1976: »Wenn ich wieder Briefe schreiben kann, dann …«6

In Jacqueline Susanns RomanDas Tal der Puppen aus dem Jahr 1966 stirbt eine Figur namens Jennifer, die sich vor einer Brustamputation fürchtet, nach ihrer Diagnose an einer freiwilligen Überdosis. »Mein ganzes Leben lang«, sagt Jennifer, »hat das Wort Krebs Tod, Schrecken und etwas so Fürchterliches bedeutet, dass es mich schaudern ließ. Und jetzt habe ich ihn. Aber das Komische daran ist, dass mir der Krebs selbst kein bisschen Angst macht – selbst wenn er sich als mein Todesurteil erweisen sollte. Es geht mir nur darum, wie er sich auf mein Leben […] auswirkt.«7 Auch die feministische Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilman, Brustkrebsdiagnose 1932, begeht S