2
München - Dunkelheit
November 2014. Als das Flugzeug in München landet, bin ich einem Nervenzusammenbruch nahe. Philipp wird mich in der Nähe der U-Bahn-Station Hohenzollernplatz treffen, bei unserem Lieblingsitaliener, und wir werden reden. In meinem Magen formt sich ein schmerzhafter Knoten und ich suche fieberhaft nach einem einfachen Ausweg aus der Situation. Als ich nach Rio flog, hatte ich mich noch sehr auf dieses erste Wochenende gefreut. Ich habe mir vorgestellt, wie wir auf unserem Balkon sitzen und uns stundenlang unterhalten, einen Spaziergang durch München unternehmen und dann gemütlich in einem Restaurant sitzen und etwas essen. Als ob das jemals so gewesen wäre. Immerhin die Restaurantbesuche haben wir meistens ganz gut hingekriegt, wenn nicht meine Essstörung gerade in mir wütete. Doch jetzt wird nichts von alledem passieren. In wenigen Stunden werden wir uns an der Station treffen, an der sich schon so viele Szenen meines Lebens abgespielt haben, und ich werde mich von ihm trennen. Ganz sicher bin ich mir allerdings noch nicht. Ich weiß, dass ich es will, aber ich befürchte, dass mich im letzten Moment, wenn ich ihn vor mir sehe, die Kraft dazu verlässt.
Oft habe ich sie mir vorgestellt, diese letzte Umarmung in dem Wissen, dass all das, was zwischen uns war, zu Ende ist, und jedes Mal fiel ich innerlich in den Zustand eines kleinen, verlassenen Mädchens zurück. Jetzt wünsche ich sie mir herbei, diese letzte Umarmung, wünsche mir, dass ich stark genug sein möge, um das, was ich vorhabe, durchzuziehen.
Es war nicht immer so zwischen Philipp und mir. Ich war einmal verliebt in ihn und ein Teil von mir liebt ihn immer noch. Zu Beginn unserer Beziehung schwebte ich auf Wolke sieben, glaubte, mit ihm alles teilen und meine Träume verwirklichen zu können. Ich liebte es, mit ihm über Medizin zu diskutieren und gemeinsam mit ihm Pläne für die Zukunft zu schmieden. Nur war es irgendwie, als würde ich zunehmend verblassen, während seine Konturen in unserer Beziehung immer stärker wurden. Irgendwann bekam ich kaum noch Luft und versuchte seitdem, wieder zum Anfang zurückzukommen. Aber es war, als schwämme ich gegen eine unbarmherzige Strömung an. Philipp entglitt mir mit den Jahren und ich erinnerte mich nur an den Ausgangspunkt unserer Liebe, an die strahlend schönen, fast surrealen Wochen der ersten Begegnungen.
Was danach kam, war für mich immer zweitrangig, ein temporäres Versagen, dem ich nicht die Bedeutung zumessen konnte, die es hätte haben sollen. Davon ist nun kaum noch etwas übrig. Wenn ich an Philipp denke, läuft mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Ich sehe mich selbst, wie ich immer wieder auf ihn zugehe und dabei gegen eine Mauer laufe. Ich sehe mich, wie ich meinen Ängsten erliege, weine, schreie, meinen Kopf gegen die Wand schlage, während er behauptet, Dinge, die ich wahrgenommen habe, seien nicht geschehen. Ich erinnere mich, wie die Furcht, er könne mich verlassen, mich immer wieder am Genick packt. Ich hasse dieses Gefühl, unterzugehen, zu ersticken, wenn ich daran denke, allein gelassen zu werden. Ich will es abschütteln, und um das zu erreichen, muss ich auch Philipp abschütteln, der Platzhalter und Spielwiese für meine Kindheitstraumata geworden ist.
Die Reise war lang und ich bin so müde, als sei ich seit Wochen unterwegs. Fast mechanisch nehme ich meinen Rucksack vom Gepäckband, verlasse den Flughafen und steige in die Bahn. Schließlich erreicht die U-Bahn die Station Hohenzollernplatz. Von dort aus laufe ich die wenigen Blocks zum Restaurant. Ich frage mich, wie es gleich sein wird, ob wir uns tatsächlich hinsetzen und gemeinsam etwas zu essen bestellen werden, so wie früher, als alles noch normal war. Wenn es denn je normal war.
Je näher ich dem Restaurant komme, desto mehr verkrampft sich mein Magen, und schon entdecke ich die lange, verloren wirkende Gestalt, die vor dem Restaurant auf und ab geht. Ich atme tief ein und sammle all meine Kraft in mir, all meine Entschlossenheit. Ich versuche, sie in mir einzuschließen wie einen Stein, der all das ausstrahlt, was ich in Rio gelernt habe: meine Freiheit, meine Leichtigkeit, meine Lebenslust. Dann gehe ich gemessenen Schrittes auf ihn zu.
Philipp sieht fürchterlich aus. Er ist bl