: Christian Möller, Michael Heymel
: Das Wagnis, ein Einzelner zu sein Glauben und Denken Sören Kierkegaards am Beispiel seiner Reden
: TVZ Theologischer Verlag Zürich
: 9783290177300
: 1
: CHF 22.70
:
: Bibelausgaben
: German
: 246
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Sören Kierkegaard, der am 5. Mai 2013 seinen 200. Geburtstag hatte, wurde vor allem bekannt durch Schriften wie 'Entweder-Oder', 'Der Begriff Angst' oder 'Die Krankheit zum Tode'. Weniger Bekanntheit erlangten seine 94 erbaulichen (oder: religiösen) Reden, die Kierkegaard als sein eigentliches Vermächtnis ansah. Michael Heymel und Christian Möller interpretieren exemplarische Texte dieser erbaulichen Reden und befragen sie auf ihre Aktualität hin. 'Das Wagnis, ein Einzelner zu sein' eignet sich so auch als Einführung in Glauben und Denken Sören Kierkegaards. Der erste Teil des Buches stellt sein Leben und sein Werk vor, der zweite präsentiert zehn ausgewählte erbauliche Reden und legt sie für die Gegenwart aus. Im dritten Teil wird versucht, Kierkegaards Leben in der Spannung von Freude und Schwermut, Himmel und Hölle zu verstehen, und gezeigt, wie er Türen zu neuen Welten öffnet. So kann man Kierkegaard als religiösen Schriftsteller kennenlernen.

Michael Heymel, Dr. theol. habil., Jahrgang 1953, ist Pfarrer und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralarchiv der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) in Darmstadt. Von 2004 bis 2012 lehrte er als Privatdozent Praktische Theologie an der Universität Heidelberg. Christian Möller, Dr. theol., Jahrgang 1940, war von 1965 bis 1972 Pfarrer in Wolfhagen bei Kassel, von 1972 bis 1988 Professor für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal und von 1988 bis 2005 an der Universität Heidelberg.

|11|

Teil A


1 Sören Kierkegaard – Annäherungen an sein Leben


Der rätselhafte Kierkegaard


Selten war ein Mensch sich selbst, seiner Mitwelt wie seiner Nachwelt so rätselhaft wie der am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geborene und am 11. November 1855 in Kopenhagen gestorbene Sören Aabye Kierkegaard. In einer geselligen Abendrunde konnte er der witzigste und geistreichste Teilnehmer|12| sein, so dass alle denken mussten, was für eine glückliche Natur dieser junge Student sei. Dann aber ging Kierkegaard nach Hause und schrieb in sein Tagebuch:

»Ich komme jetzt gerade von einer Gesellschaft, wo ich die Seele war, Witze strömten mir nur so aus dem Mund, alle lachten, bewunderten mich – aber ich ging –––––, ja der Gedankenstrich müsste genauso lang sein wie die Radien der Erdbahn und wollte mich selbst erschießen.«5

Er kleidete sich gelegentlich wie ein Dandy und spazierte am Nachmittag durch Kopenhagens Hauptstrasse mit seinem Spazierstock, als genieße er das Leben und sei ein Müßiggänger. Doch kaum war es dunkel geworden, eilte er zurück in seine Wohnung und arbeitete bis Mitternacht an mehreren Stehpulten weiter, sei es an seinem Tagebuch, an einer pseudonymen Schrift oder an einer erbaulichen Rede.

Gab er sein erstes Hauptwerk »Entweder-Oder« in zwei Bänden 1843 heraus, so gab er dem Verfasser das PseudonymVictor Eremita (der siegreiche Einsiedler). Natürlich sprach sich bald in Kopenhagen herum, dass Kierkegaard in Wahrheit der Verfasser sei. Und doch ließ sich der wahre Verfasser auf der Straße oder an anderem Ort nicht auf sein Werk ansprechen, sondern war nur bereit, über den pseudonymen Verfasser und dessen Werk zu reden. Warum dieses Versteckspiel? Probiert hier einer die Rollen seiner Existenz aus, erprobt er Möglichkeiten des Lebens und spielt sie durch, um sie seinem Leser zuzuspielen?

Das macht es so schwer, Kierkegaards Leben auf die Spur zu kommen: Bei fast jeder seiner Äußerungen bezieht er sich auf seinen Leser und entzieht sich doch zugleich, als wollte er sagen: Hier bin ich und bin es doch nicht. Nennt mich meinetwegen den »Sokrates Kopenhagens«. Ja, ich habe über Sokrates und dessen Ironie eine Magisterarbeit6 geschrieben. Mit dieser Rolle könnte ich mich angesichts der Geisteszustände Kopenhagens gut anfreunden, wie mir Sokrates überhaupt zudem Weisen des Altertums geworden ist. Mit ihm vergleichen könnte ich mich freilich nicht.

Nennt mich den »Spion Gottes«, wie ich es selbst einmal in mein Tagebuch geschrieben habe. Das bin ich und bin es doch nicht, denn Gott ist im Himmel und ich auf der Erde. ER weiß, was er mit mir vorhat.

|13| Nennt mich einen »Philosophen«! Ja, ich habe viel Philosophie studiert, habe Schelling in Berlin gehört, habe mich mit Hegel an vielen Stellen meiner Schriften direkt oder indirekt auseinandergesetzt, wäre gern der Nachfolger meines verehrten philosophischen Lehrers Poul Möller an der Universität Kopenhagen geworden, habe auch eine kleine Schrift mit dem Titel »Philosophische Brocken« mitsamt einer sehr langen »Unwissenschaftlichen Nachschrift« herausgegeben, aber ein Philosoph bin ich nicht, auch wenn mich die Philosophiegeschichte zum Begründer der »Existenz-Philosophie« machen will.

Nennt mich einen »Psychologen«! Ja, ich habe zwei meiner Schriften Untertitel gegeben, die mein großes Interesse an der Psychologie zum Ausdruck bringen: »Eine schlichte psychologisch andeutende Überlegung« (»Der Begriff Angst«) und »Eine christlich-psychologische Erörterung zur Erbauung und Erweckung« (»Die Krankheit zum Tode«); auch hat mein Verständnis vom »Selbst« besonders in der humanistischen Psychologie eine große Bedeutung gewonnen. Aber ein Psychologe bin ich gleichwohl nicht, denn ich habe eigentlich nur mich selbst im Licht Gottes reflektiert und dabei festgestellt: »Je mehr Vorstellung von Gott, um so mehr Selbst; je mehr Selbst, umso mehr Gottesvorstellung«.7

Nennt mich einen »Theologen«! Ja, ich habe auch