: Alban Nikolai Herbst
: Thetis. Anderswelt Fantastischer Roman
: Elfenbein Verlag
: 9783941184978
: 1
: CHF 22.60
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 900
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Jede Pfütze Ozean', heißt es im Vorspiel zu diesem Buch. Und tatsächlich verwandelt ein Spaziergang die Stadt Hans Erich Deters' in eine Komposition aller anderen ­Städte. Durch die Fugen der Hauswände und aufgeplatzten Trottoirs geht es direkt in jenes fantastische Land, von dem es heißt: dort richte sich die Zeit nicht mehr nach unserer Erfahrung. Denn Augenblicke seien Jahre, was aber lang anmute, sei im Fluge vorbei. Die Anderswelt ist das Land der Lebenden und der Toten und zugleich das aller Geschöpfe der Fantasie: Die Räume schweben. - Noch zwar glaubt Deters, sich flanierend so etwas nur auszudenken, da wird er in der U-Bahn von einer eigenwilligen Frau aufgefordert, sie in einem Café 'Samhain' zu erwarten, das sich unschwer als das 'Silberstein' des Berlin der neunziger Jahre erkennen lässt. Dort nun sitzt er und erdichtet die Geschichte seiner computierten Anderswelt-Stadt?... und merkt nicht, wie sich das 'Silberstein' nach und nach mit deren Figuren füllt, ja, wie er selbst zur Marionette seiner Fiktionen und unversehens in die eigene Erfindung hineingestoßen wird. 'Thetis. Anderswelt' erschien erstmals 1998. Er wird hier, nach zwanzig Jahren, in einer vom Autor vollständig durchgesehenen und leicht überarbeiteten Fassung erneut aufgelegt. Der Roman ist der erste Teil einer Trilogie, die Alban Nikolai Herbst 2001 mit dem 'Kybernetischen Roman' 'Buenos Aires. Anderswelt' fortsetzte (Neuausgabe 2017 im Elfenbein Verlag) und 2013 mit dem 'Epischen Roman' 'Argo. Anderswelt' abschloss.

Alban Nikolai Herbst (geb. 1955) studierte Philosophie und Geschichte und arbeitete zeitweilig als Devisenbroker. Die literarische Bühne betrat er bereits als 26-Jähriger. Seit dem Erscheinen des Romans 'Wolpertinger oder Das Blau' (1993) zählt er zu den wichtigsten deutschsprachigen Vertretern der postmodernen Literatur und wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen (u. a. Grimmelshausen-Preis) geehrt. 1998 erschien mit 'Thetis' der erste Teil seiner sprachlich und kompositorisch außergewöhnlichen 'Anderswelt'-Romantrilogie, die mit 'Buenos Aires' 2001 ihre Fortsetzung fand und mit 'Argo' 2013 abgeschlossen wurde. Im Elfenbein Verlag erschien zudem 'Die Illusion ist das Fleisch auf den Dingen' (2003) sowie der Gedichtband 'Das bleibende Thier. Bamberger Elegien' (2011).

1Die Qualität einer Stadt und also die der Aufzeichnungen über sie mißt sich an der Be­schaf­fen­heit ihrer Gehsteige, Fahrbahnen, an Unebenheiten, hohem und niede­rem Trot­toir. Ist dieses, wie im Westen, uniform aufs Marktniveau gebracht, so ist die Stadt selbst nur Äqui­valenz und sind es ihre Bewohner. Damit alle Fantasie perdu.

Ich aber will, daß Raum fürs Un­geheure bleibe.

Der ist auch im Kopf zu schaffen. Nur zu beobachten reicht nicht.

Ich will Dich Buenos Aires nennen. Ich nenn Dich nicht ­Paris, nenn Dich nicht Rom, schon gar nicht Prag, und auch Belgrad nicht und nicht London, geschweige so, wie Du heißt. Schon werdet Ihr alle mir eine. Und wo etwas fehlt, denk ich’s aus den Geschwi­stern hinzu.

Denn es fehlt vieles.

Die Stadt hat Lehm an den Füßen. Die Menschen wühlen, als würfen sie sich noch hellichten Tages unter stickigem Bettzeug auf ei­ner mit Unlust ge­stopf­ten Matratze herum. Spreche ich auf der Straße jemanden an, kann es gut sein, daß er meint, zurück­schlagen zu müssen. Immer stehen vor verschmutzten Fassaden auch verschmutzte Leute herum. Nirgendwo sonst sieht man mehr zersto­chene ge­peinigte Lippen Nasen Ohren. Die Narben der Häuser wiederholen sich in ihren Bewohnern. See­len sind es wie Bombentrichter.

Das reizt mich auf, Dich umzuer­finden.

Ich trete ins Treppenhaus, sperre die Tür hinter mir ab, meine Wohnhöhle schließt sich, wie Borkenbrods sich verschloß. Ich sollte den unterm Straßenpflaster wohnen lassen, denn seine Mutter ist Thetis, seine Seele muß im Grund­wasser stecken.

Aber sie steckt imBoudoir.

Die dumpfe Wärme im Hausflur.

Ich zähle die Stufen, schließe die Augen, sechs mal zwei halbe Etagen. Jedes Ge­räusch ins Hallen verfremdet, die Schritte knallend. Werden heller auf dem muffigen Hinter­hof, Gerü­che, wart mal, Gras und Stein, damp­fend vom Re­genguß nach der Hitze. Hausmüll. Die Augen auf, blinzeln: Ein Bäumchen zwischen Ton­nen und Fahrrä­dern, krumm, noch stehen Lachen auf der unebnen Pflasterung, versickern seitlich im Sand­matsch. Die Toreinfahrt durchs Vorderhaus, eine Art Tunnel, es riecht nach vergo­rener Gerste und der Pisse der Nacht. Das Portal rostigsteif in den Angeln, die Klinke fas­sen, ziehen, es knarzt. Hinaus auf die Straße, und sofort umschlägt mich ein Lärm, als würd ich in dichtere, in eine wollene Luft getaucht. Gleich rechts glän­zen nasse Stühle vor der irischen Kneipe. Und das Kopfsteinpflaster dampft. Stim­men jun­ger Leute. Diese eigen­artige, mir so fremde Lust an der Farblosigkeit.

Mein flinker Blick, der flirten will. Niemand ist bereit zu spielen.

Proletarismus, mag sein, doch ohne Proletarier.

Ich gieße einen Liter Neapel hinein.

Welch seltsamer Graffito!

Wer formt die Waffen von Berg zu Berg, von Welle zu Welle?

Hier war doch gestern abend noch ein Second-hand-Laden … Wo ist der denn hinge­kommen? – Städte sind Vorstellun­gen. Wie siewirklichundwiewirklich sie sind, erfahren wir nicht.

Das Schnaufen einer angezogenen Lkw-Bremse Mo­peds schrill Fahrradgeklin­gel, es rattert ein Tor auf. Eine Dieselmaschine. Anfahren, stoppen, ich gerate ins Tru­deln. Ir­gendwo wurde hier gestern gebaut, es wird hier überall gebaut. »Heiße Birne, wa?!«: Ir­gend sowas.

Achilles Borkenbrod, immer eine Sprühdose bei sich, verläßt seinen Unterschlupf, eine aufgelassene Wohnung inmitten der Zentralstadt. Vielleicht. Oder eine Art Slum, wo­hinein nicht einmal Polizi­sten und Milizionäre sich trauen. Geht aber direkt in ein von Dienstlei­stungs­gewerbe brodelndes Handelsviertel über. Nicht aber doch Colón: her­untergekommene Altstadt?

Er schließt also die Tür hinter sich, aber das macht kein Geräusch. Es gibt auch kein Schlüs­selknirschen, kla