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Wie Finns schmerzender Kiefer in jener Marschkolonne pochte auch der Krieg weiter und weiter, unterbrochen nur von Intermezzi, in denen in der Eile mehr als einmal der falsche Zahn gezogen worden zu sein schien. Inzwischen lebte ich in einer Einzimmerwohnung im achten Stock eines nüchternen Wohnblocks im Stadtteil Chelsea. Das private Leben, scheinbar im Stillstand befindlich, formte, wie stets, neue Muster. Isobels Bruder George Tolland (mittlerweile zum Oberstleutnant befördert und als›A und Q‹im Stab einer Division im Mittleren Osten diensttuend) war schlimm verwundet worden und lag in einem Lazarett in Kairo. Roddy Cutts, der Ehemann ihrer Schwester Susan, Major in einer Kavallerieeinheit, die in ein Aufklärungscorps umgewandelt worden war, hatte kürzlich nach Hause geschrieben, er habe sich in eine der Frauen verliebt, die am Generalhauptquartier der Persien/Irak-Streitkräfte die Telegramme entschlüsselten, und wünsche die Scheidung, auch wenn er damit den Ruin einer vielversprechenden politischen Karriere riskiere. Diese Eventualität, die für Susan, aber auch für den Rest der Familie, völlig unerwartet kam, denn Roddy hatte stets als ein in dieser Hinsicht ziemlich wenig unternehmungslustiger Mann gegolten, erzeugte große Bestürzung.
Wenn es nicht notwendig war, dass ich bis spät im Regierungsviertel blieb, ging ich gewöhnlich nach dem Dienst direkt in eine nahegelegene Kneipe, aß dort zu Abend und zog mich dann mit einem Buch ins Bett zurück. In dieser Periode war es das siebzehnte Jahrhundert, das mich besonders beschäftigte, so dass Werke wie Anthony Woods»Athenae Oxonienses«oder Narcissus Luttrells»Brief Relation«Ausblicke auf eine Vergangenheit eröffneten, die, wenn man sie auch nicht notwendigerweise unserer eigenen Zeit vorzuziehen vermochte, zumindest deutlich anders war. Als Abwechslung von dieser historischen Lektüre las ich Proust. Die Wohnung selbst war eigentlich gar nicht so übel. Die stetig wechselnde Einwohnerschaft des Blocks, eine bunte Mischung, die zu einem großen Teil aus Personen beiderlei Geschlechts bestand, die für die Ministerien arbeiteten, umfasste auf der weiblichen Seite eine Skala, die von hochrangigen Sekretärinnen, Offizieren der Frauendienste und Organisatorinnen des einen oder anderen bis hin in die nebulöse Welt von alleinlebenden Geschiedenen und unsteten Typen noch schwerer zu definierenden Charakters reichte, Typen, die wahrscheinlich, was die›Kriegsanstrengungen‹ anging, so gut wie unbrauchbar waren, es jedoch aus dem einen oder anderen Grund vorzogen, in London zu bleiben und die Luftangriffe zu ertragen. An warmen Abenden konnte man diesen ungebundenen Damen auf dem flachen Dach des Gebäudes begegnen, wo sie sich ergingen, den zu ihrem Einsatz startenden Bombern nachschauten, um Zigaretten oder Feuer baten und sich untereinander oder gegenüber jedem, mit dem sie in Kontakt getreten waren, über die Unzulänglichkeiten von Miss Wartstone beschwerten.
In einem anderen Stockwerk des Blocks hatte auch Hewetson, der Offizier der Abteilung, der für die Belgier und Tschechen zuständig war, eine Wohnung gemietet. Eine Zeitlang gingen er und ich jeden Morgen zusammen zum Dienst. Doch dann entschloss er sich, sich mit einem Freund bei der Admiralität (der eine Beziehung zu einer Frau hatte, die kochen konnte) eine größere Wohnung zu teilen, und zog weg. Hewetson war in seinem Privatleben Rechtsanwalt und vermittelte, obwohl er nicht viel über solche Dinge sprach, den Eindruck, bei Zufallsbekanntschaften erfolgreicher als Borrit zu sein. Er gab einmal zu, eine Art Abenteuer, das daraus entsprang, dass er sich während der Erholungsphase nach einem Grippeanfall auf dem Dach sonnte, mit einer jener Sirenen der Schornsteinaufsätze zu haben. Eine andere sagte ihm, sie könne emotionale Intimität nur mit jemandem ihres eigenen Geschlechts erreichen. Hewetson kan