DIE AUFZEICHNUNGENVON FIELDING GRAY
Am zweiten Sonntag nachdem der Krieg in Europa zu Ende war, wurde in der Kapelle unserer Schule ein Gottesdienst zum Gedenken an die Toten abgehalten. So viele Ehemalige, wie man in der kurzen Zeit erreichen konnte, waren darüber informiert worden, und die Sitzbänke für Besucher quollen über von Uniformen. Während wir abgetragene graue Flanellhosen und ausgebesserte Tweedjacken anhatten, waren Englands siegreiche Kämpfer mit allen nur denkbaren Farben und Effekten ausstaffiert. Da waren die schwarz-goldenen Kopfbedeckungen der Gardedivision, die dunkelgrünen Schiffchen des Schützenregiments, um die Hüften der Highlander waren Kilts geschwungen und die Mitglieder der berittenen Artillerie über und über mit Kugelknöpfen bedeckt; es gab makabere Uniformabzeichen und seltsam geknotete Achselschnüre; vereinzelt waren sogar Reiterstiefel mit Sporen zu sehen, obwohl ihr Anblick1945allgemein missbilligt wurde, weil sie Assoziationen an den Faschismus hervorriefen.
Zunächst verlief der Gottesdienst im Einklang mit diesem prächtigen Dekor. Ein innig gesungenes»Jerusalem«, dessen politische Implikationen den meisten Anwesenden entgingen, sorgte für ein wohlgefälliges Gefühl des Triumphs, und die Stelle aus den Apokryphen, die sie bei solchen Gelegenheiten immer wählen, ließ uns, auch wenn sie dem gemeinen Fußvolk den nötigen Tribut zollt, keinen Zweifel, dass materieller Wohlstand und ein traditionelles Herrschaftsverständnis das waren, worauf es letztlich ankam. Ich selbst saß in der Abteilung für die Oberstufenschüler, von wo aus man einen guten Blick auf die Besucher hatte, und ich konnte sehen, dass sich die prachtvollen Offiziere zu diesem Zeitpunkt unverhohlen zurechtmachten, als wäre die ganze Veranstaltung dazu da, ihnen zu huldigen. Tatsächlich zeigten sich, als die Verdienste der Toten gewürdigt wurden (ein Prozedere, das einige Zeit in Anspruch nahm), unmissverständliche Anzeichen von Langeweile und Missfallen, es wurde ausgiebig an Offiziersstöcken und Pferdepeitschen herumgespielt und viel an den Sam-Browne-Gürteln herumgefummelt; die Krieger waren, wie es schien, nicht hier versammelt, um sich lang und breit die Errungenschaften anderer anzuhören. Es wäre das Mindeste gewesen, so schienen sie zu denken, dass man die Liste diskret ein wenig hätte kürzen können.
»Connaught la Poeur Beresford«, tönte unser Schulvorsteher, »Leutnant, Irische Garde, in einem Lazarett an Kriegsverwundungen verstorben, die er bei Anzio erlitten hat. Zuvor mit dem Militärverdienstkreuz ausgezeichnet, für Tapferkeit in der Libyschen Wüste.«
Gut,daswar in Ordnung: Selbst der überhebliche Kavallerist in den kirschroten Hosen konnte daran schwerlich etwas auszusetzen haben. Aber:
»Michael John Blood, Obergefreiter, Königliches Fernmeldekorps, verstorben an einer Lungenentzündung im Militärhospital in Aldershot.«
Das war hier natürlich ganz und gar fehl am Platz. Vielleicht mochte es unter Umständen gerade so angehen, solange man nicht noch die Aufmerksamkeit darauf lenkte. Es war nicht nötig, das an die Öffentlichkeit zu zerren – so sah das offenbar ein junger Major mit steinern verkniffenem Mund, der obsessiv immer wieder über einen riesigen, khakifarbenen Filzhut strich. Als ich den hochmütigen Major beobachtete, wallte schuldbewusst eine Welle von Mitleid für Michael John Blood in mir auf, der geradezu grotesk verpickelt und o-beinig gewesen war, aber nie hochmütig auf jemanden herabgesehen hatte. Ruhe in Frieden! Für wen hielt sich dieser Major, dass er meinte, auf dieses klägliche Grab spucken zu können?
Andererseits, für wen hielt ich mich, wenn ich meinte, andere kritisieren zu dürfen, und sei es einen arroganten Fiesling wie den hier? Ich verschloss meine Ohren gegen die aufreibende Deklamation der Sterblichkeit und dachte darüber nach, dass meine eigene Geisteshaltung, auch wenn sie vielleicht weniger abschätzig war als die der hier versammelten Großtuer, dennoch ganz ähnlich und im Grunde genauso eigensüchtig war. (»Norman Isaac Cohen, Hauptmann, Fallschirmjägerregiment« …Cohen?) Denn das einzige Gefühl, dessen ich mir an diesem schönen Sommerabend im ersten Mai der Friedenszeit wirklich bewusst war, war Erleichterung: Erleichterung, dass niemand vorhatte, mich zu töten, dass ich jetzt ungehindert in eine Zukunft eintreten konnte, die mir sowohl Vergnügen versprach als auch die Möglichkeit, mich hervorzutun. Es lag, gleich als Erstes, ein ganzer Sommer mit nichts als Cricket vor mir, und danach würde ich noch ein weiteres Jahr auf der Schule bleiben, in dieser Zeit dann Kapitän meines Hauses (und vielleicht der gesamten Schule) sein und versuchen, das kleine Stipendium, das mir im letzten April für Lancaster College zugesprochen worden war, zu einem üppig dotierten Vollstipendium aufzustocken. Ein Platz in Cambridge war mir also bereits sicher, und da mein Vater finanziell gut gestellt (wenn auch nicht eben freigebig) war, konnte ich an der Ausschreibung leichten Herzens als jemand teilnehmen, dessen Beweggrund die ehrenvolle Auszeichnung und nicht die Notwendigkeit war.
»William King Fullworthy, Unteroffizier, Nachrichtenkorps. Irgendwo im Dschungel in Burma.«
Irgendwo im Dschungel. Als hätte man das nicht schon vorher wissen können. Fullworthy hatte, kaum zwei Jahre älter als ich, bevor er Soldat wurde, das großartigste von all den großartigen Stipendien, die Lancaster zu bieten hatte, zugesprochen bekommen. Doch würde Fullworthy, wie es schien, nicht zurückkehren, um es in Anspruch zu nehmen: Stelle frei. Wohingegen ich, Fielding Gray, nur hinaustreten musste in die Abendsonne, und zu allen Seiten hin würde sich die Welt friedlich und heiter um mich erstrecken, um mein Wissen zu mehren, mein Lob zu singen, mir Freude zu verheißen.
Und so musste ich in der Tat, dachte ich, angesichts dieser Erlösung zumindest versuchen, Dankbarkeit zu zeigen. Aber wem gegenüber? Wofür?
»Tobias Ainsworth Jackson, Oberstleutnant, Königlich-Britisches Feldzeugkorps, starb an Herzversagen als Kommandeur der14. Versorgungseinheit in Woking.«
Starb am Suff. Jeder kannte die Geschichte, da Woking nicht weit entfernt lag und Oberstleutnant Jackson, gelangweilt von seiner Aufgabe, die genau genommen in der Abwicklung von Militärbegräbnissen bestand, häufig und unglückseligerweise seine alte Schule besucht hatte. Nein, ihm konnte ic