Die Kärwasau ist tot
»Der Dokter, der Dokter, schnell, ist der Dokter nu doh?« Urplötzlich herrschte große Aufregung im Grauen Wolf. Und so, wie die hektischen Rufe aus dem Eingangsbereich des Wirtshauses klangen, musste etwas Schreckliches passiert sein. Die Tür zur Gaststube wurde aufgerissen. Es war früher Vormittag, ich saß gerade beim Frühstück. Was man mir serviert hatte, hätte eine vierköpfige Familie einen Tag lang mühelos ernährt, aber es war der Dienstag nach der Kärwa, und wer die letzten viereinhalb Tage hier im fränkischen Oberspring erlebt und mitgemacht hatte, der brauchte jetzt etwas Deftiges. »Herr Dokter, Herr Dokter, schnell, kummer S’, schnell!« Der Meindl und der Regenfuß waren hereingestürzt, hatten sich umgesehen, mich entdeckt und waren an meinen Tisch gestürmt. Sie waren sichtlich aufgeregt. Nicht gut für deren alte Herzen. Dass die beiden überhaupt schon wieder auf den Beinen waren und halbwegs geradeaus sehen konnten, grenzte an ein kleines Wunder, so beieinander, wie sie gestern Nacht gewesen waren – und dass sie die Kärwatage überhaupt überlebt hatten, schon an ein größeres. Doch die Menschen in diesem Landstrich sind zäh und hart im Nehmen. Ich hatte in den vergangenen Tagen etliche dieser Eingeborenen kennengelernt. Und auch etliche von deren rustikalen Bräuchen.
Ich bin, das sollte ich vielleicht vorausschicken, Arzt. Ich habe ein Leben lang in der Gegend von Hersbruck eine Praxis für Allgemeinmedizin betrieben und bin seit zwei Jahren im Ruhestand. Seit ich endlich wieder Zeit habe, wandere ich viel durchs fränkische Land, meist Mehrtagestouren, bei denen ich in Gasthöfen entlang des Weges übernachte. So war ich ahnungslos am letzten Donnerstag in Oberspring gelandet, hatte mir ein Zimmer genommen – ein Wunder, dass überhaupt eines frei gewesen war, wie ich hernach feststellte – und mich zum Abendessen in die Wirtsstube begeben, die sich, eigentlich ungewöhnlich für einen Donnerstag, ziemlich schnell bis auf den letzten Platz füllte. Aber ich wusste schon, warum, denn auf der Wiese neben dem Gasthof hatte unter dem sattgrünen Mailaub der alten Bäume eine kleine Schiffschaukel gestanden, daneben eine Losbude, ein Schießstand mit Plastikblumen und eine Bude für Süßigkeiten, dahinter zwei, drei Wohnwägen der Schausteller. Eine Handvoll Kinder lungerte erwartungsvoll um die Stände herum, die aber hatten ihren Verkauf noch nicht gestartet. Die Beleuchtungen brannten schon und verströmten im frühen Abendlicht das Gefühl heimeliger Vorfreude. Vor dem Gasthof waren Biergarnituren aufgestellt, doch hatte dort niemand Platz genommen, denn es hatte zuvor geregnet und ein weiterer Gewitterschauer kündigte sich mit dunklen Wolken an, außerdem wurde noch nicht bedient. Seitlich brummte ein in die Jahre gekommener Kühlcontainer einer lokalen Brauerei vor sich hin, eine Mückensäule tanzte im Licht einer L