: Thomas von Steinaecker
: Ende offen - Das Buch der gescheiterten Kunstwerke
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104008592
: 1
: CHF 29.00
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 608
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die faszinierende Kulturgeschichte der gescheiterten Kunstwerke Weshalb gibt es von Stanley Kubricks monumentalem Filmvorhaben zu Napoleon nur ein Drehbuch? Warum hört Stockhausens Werkzyklus mit dem seltsamen Titel KLANG bei der 21. Stunde auf? Und wieso schaffte es David Foster Wallace nicht, seinen Roman »Der bleiche König« zu vollenden? Die Liste der gescheiterten Kunstwerke der Kulturgeschichte ist lang und spektakulär. Und die Gründe für das Scheitern so unterschiedlich wie die einzelnen Projekte: Mal war es der Größenwahn des Künstlers, ein anderes Mal fehlte plötzlich das Geld, nicht selten kam ein früher Tod dazwischen. Der Schriftsteller Thomas von Steinaecker erzählt in seinem Buch die außergewöhnlichsten Geschichten hinter dem Scheitern und zeigt, wie einflussreich Ideen sein können, die nur in unserer Fantasie existieren.

Thomas von Steinaecker, geboren 1977 in Traunstein, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane, Graphic Novels sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme u.a. zur Musik des 20. Jahrhunderts und zur Kulturgeschichte Deutschlands, für die er internationale Preise gewonnen hat. Zuletzt erschienen 2016 der Roman »Die Verteidigung des Paradieses«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war, 2021 das Sachbuch »Ende offen«, 2022 die Graphic Novel »Stockhausen: Der Mann, der vom Sirius kam« und 2023 der Roman »Die Privilegierten«.

Manifest des gescheiterten Kunstwerks


Dass Robert Musil seinenMann ohne Eigenschaften nie vollendete, ist nicht akzeptabel. Es ist nicht akzeptabel, dass David Bowie nur fünf Demos seines allerletzten Albums aufnehmen und Stanley Kubrick nie vor der Kamera Napoleon Befehle erteilen durfte. Wir wollen Beethovens zehnte Sinfonie hören. Wir wollen im obersten Stockwerk des eine Meile hohenIllinois-Hochhauses von Frank Lloyd Wright Kaffee trinken und auf Chicago blicken.

Wir sind nicht interessiert am absichtlichen Fragment. Ja, wir wissen schon: Die romantische Dichtart ist ewig im Werden und kann nie vollendet sein. Novalis, Schlegel, Tieck: Ihr wartet auf die Transzendenz. Ihr könnt Gott nicht abbilden, deshalb sollen wir ihn in eurem Ungeschriebenen erahnen. Ihr Romantiker! Wir bleiben realistisch. Wir präsentieren das unabsichtliche Fragment und feiern das. Wir feiern die Gescheiterten. Wir feiern die Größenwahnsinnigen. Wir feiern die, die sich verspekuliert haben. Wir feiern die, denen ein Strich durch die Rechnung gemacht wurde. Wir feiern die Kranken. Wir feiern die zu früh und nochmalsviel zu früh Gestorbenen und ihre Werke. Kleist, Shelley, Schubert, Runge, Marc, Monroe, Fassbinder, Herrndorf, Hadid und der ganze verdammte Klub 27.

Wir wollen wissen, warum. Warum wurde dieser Text, dieses Album, dieses Gebäude, diese Sinfonie, dieser Film, dieses Gemälde, die Skulptur nichts? Warum endete eine Geschichte, die häufig so vielversprechend begann, manchmal jäh und manchmal erst nach jahrelangem, bitterem Kampf? Uns interessiert das Ringen. Das Hoffen und Bangen. Uns interessieren die erstaunlichen Zufälle, die es braucht, damit am Ende doch etwas entsteht, das eigentlich äußerst unwahrscheinlich ist und eben öfter als selten auf nicht einmal halber Strecke liegen bleibt: ein Kunstwerk. Uns interessieren die hochtrabenden Pläne. Die Träume, die platzten. Die Menschen, die sie träumten – und unsanft erwachten. Uns interessiert der Einspruch gegen die Wirklichkeit.

Wir sind nicht ganz richtig, könnte man meinen. Wir spinnen. Wir sind fasziniert von dem, was weggeworfen wurde; von dem, dem etwas fehlt; von dem Ungeschliffenen, Unpolierten, dem Rest. Das ist nicht ganz richtig. Wir müssen präzisieren. Zum ersten Mal fasziniert Abfall in der Kunstgeschichte, als er von einem Gott stammt. Der Überirdische wird1475 geboren. Er heißt Michelangelo. Schon zu Lebzeiten erhält er von seinen Verehrern den Beinamen »der Göttliche«. Kein anderer Einzelkünstler vor ihm hat mehr Torsi hinterlassen, auch weil sie nicht wie sonst üblich als unvollkommen angesehen und darum entsorgt, sondern wie Reliquien aufbewahrt und verehrt wurden. Die Voraussetzung für seine Göttlichkeit ist Michelangelos unzeitgemäßer, nachgerade modern anmutender Charakter wie wir ihn heute bei Künstlern lieben: rastlos, manisch, perfektionistisch, aufopfernd. Erst die Kunst, dann das Leben. Plötzlichen Eingebungen gehorcht Michelangelo auf der Stelle. Er schläft in seinen Stiefeln. Bei seinem Tod1564 defilieren Dutzende Jünger an seinem Leichnam vorbei. Sie sind in derselben Soutane gekleidet wie ihr Meister. Hier arbeitete kein anonymes Kollektiv mehr wie noch im Mittelalter. Hier schuf ein einzigartiges Individuum. Und nicht zu Gottes Ehren, sondern den Menschen zur Feier.Signed and sealed: Michelangelo, Superstar. Im Glanz einer solchen Aura beginnen Fragmente zu leuchten.

Von nun an konnte es passieren, dass auch das Unvollkommene vollkommen war. Von nun an gab es eine Figur, die erst in der Aufklärung ihren Namen erhalten und sich seit der Romantik