: Julia Franck
: Welten auseinander
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104035574
: 1
: CHF 13.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 368
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Julia wird in Ostberlin geboren. Sie ist acht, als ihre Mutter sie und die Schwestern in den Westen, erst ins Notaufnahmelager Marienfelde und dann nach Schleswig-Holstein mitnimmt. In dem chaotischen Bauernhaus kann die Dreizehnjährige nicht länger bleiben und zieht aus, nach Westberlin. Neben der Sozialhilfe verdient die Schülerin Geld mit Putzen, sie lernt ihren Vater kennen und verliert ihn unmittelbar, macht ihr Abitur und begegnet Stephan, ihrer großen Liebe. Wenn sie sich erinnert, ist es Gegenwart. »Welten auseinander« ist Julia Francks bewegende Erzählung einer ungewöhnlichen Jugend voller Brüche und Unsicherheiten; ein schmerzhaft-schönes Buch der Selbstbehauptung, das von Scham und Trauer so genau erzählt wie von Tod und Liebe. Schreiben und Literatur erweisen sich als Instrumente des Bleibens, vorerst.

Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt ?Der neue Koch?, danach ?Liebediener? (1999), ?Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen? (2000) und ?Lagerfeuer? (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman ?Die Mittagsfrau? erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 40 Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt (2023, Regie: Barbara Albert). Nach ?Rücken an Rücken? (2011) erschien zuletzt ?Welten auseinander? (Platz 1 der SWR-Bestenliste). Für ihr Werk wurde sie 2022 mit dem Schiller-Gedächtnis-Preis ausgezeichnet. Literaturpreise: 1995 Siegerin beim Open Mike-Wettbewerb 1998 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste 1999 Stipendium der Stiftung Niedersachsen 2000 3sat-Preis in Klagenfurt 2004 Marie Luise Kaschnitz Preis 2005 'Roswitha Preis' der Stadt Bad Gandersheim 2007 Deutscher Buchpreis 2010 war die englische Ausgabe der ?Mittagsfrau? auf der Shortlist des Independent Foreign Fiction Prize und auf der Shortlist des ?Jewish Quaterly? sowie für den internationalen IMPAC nominiert. 2022 Schiller-Gedächtnis-Preis

In den letzten Tagen war es noch kühl gewesen, der Duft des Flieders liegt über dem Asphalt der Vorbergstraße, Apostel-Paulus-Kirche, Schwäbische Straße, freihändig auf dem Rad, und die weißen Kastanien werfen ihre ersten Blütenblätter ab, ich weiß es bis heute. Unzählige Details dieses Tages haben sich in meine Erinnerung gebrannt. Das Datum sollte ich später in meinen Ring gravieren lassen.

 

Den Ring hatte ich einige Jahre zuvor beim Putzen auf dem Boden gefunden. Er gehörte niemandem. Die Leute, bei denen ich arbeitete, hatten mir gesagt, ich solle ihn behalten. Es war ein einfacher hellgoldener Ring, zu schmal für einen Ehering. Als Stephan mir im ersten Jahr unserer Liebe eines Abends den breiten gelbgoldenen Ehering seiner verstorbenen Großmutter über den Finger schob, damit ich ihn auf unabsehbare Zeit trüge, nahm ich meinen Findling vom Finger und gab ihm diesen im Gegenzug. So trugen wir jeder den Ring des anderen mit seiner jeweiligen Geschichte, wobei diejenige meines Rings noch unbekannt war.

Das gezielte Vergessen ist uns nicht möglich. Unseren Körpern so wenig wie unseren Seelen. Was wir nicht verstehen, fesselt uns. Auf dem Rücken liegen wir im Sand, das Rauschen des Meeres im Ohr und auf der Haut, in unseren Knochen, an unseren Membranen, betrachten wir die Sterne über uns, um uns das schwarze All, aus dessen Weite uns ihr altes Licht erreicht. Wenn in dieser Nacht seine Wellen auf unsere Netzhaut treffen, wir das Funkeln und Flimmern und Flackern sehen, uns beglücken lassen, wissen wir bloß, dass manch einer der Sterne längst erloschen ist. Mit Stephan liege ich so. Auf dem Sand an der ligurischen Küste und auf dem Felsen über dem Meer am Haus seiner verstorbenen Großeltern, wir liegen so nebeneinander auf den schwarz-weißen Feuersteinen an der Ostsee und im Gras der Mecklenburgischen Seenplatte. Zusammen staunen wir über die Schönheit der Welt. Wir strecken uns, träumen einander zu, entfalten phantastische Geschichten, stellen uns die einfachen Fragen unserer Herkunft und erzählen davon, tauschen uns aus, widersprechen, lachen, berühren uns, bald interessieren uns mehr die philosophischen Fragen nach Leben und Tod, das Erweitern von Wahrnehmung und Bewusstsein, woher und wohin, nächtelang, wir genießen die Erregung aus Neugier und Empfinden der Unermesslichkeit. Denke ich daran, ist es Gegenwart.

Er war schmal, das kastanienbraune Haar schimmerte in Wellen, ein knabenhafter Junge mit einer tiefen und warmen Stimme. Seine Haut war gezeichnet, auf dem Bauch trug er mehrere Narben, zwei von fast zwanzig Zentimetern Länge und kleinere. Es hatte vor unserer gemeinsamen Zeit eine Notoperation geben müssen. Er kannte Schmerz und Narkose.

Zu seinem neunzehnten Geburtstag schenkte ich Stephan FaulknersWilde Palmen mit der Widmung: Aus Freude über einen kurzen Augenblick. Er sagte mir Monate später, er glaube, er werde nicht sehr alt.

 

Stephan hatte mich am Vormittag des sonnigen Maitages angerufen, er wollte mich später treffen, unbedingt. Er schraubte an seinem neuen Fahrrad – als Linkshänder wollte er die Bremsen von Vorder- und Hinterrad vertauschen. Ich weiß noch, wo ich während dieses Gesprächs in meiner Wohnung in der Schöneberger Hauptstraße stand. Sobald das Telefon klingelte, musste ich das Fenster schließen, weil der von unten dröhnende Verkehr zu laut war. Wie mein Blick auf die Bücher fiel, ein altes hölzernes Postregal mit hohen Fächern, in dem ich die halbe Bibliothek meines Vaters mit Baudelaire und Stendhal, Sartre und Camus untergebracht hatte, daneben standen die Ordner mit Sozialhilfeanträgen, Halbwaisenrentenanträgen, Kleideranträgen, der Sterbeurkunde meines Vaters, meinem Antrag auf Wiederaufnahme in das Schulsystem nach den fast zwei Jahren meiner Abwesenheit 87/88, Praktikumsbescheinigungen, Steuerkarten und Honorarblätter aus dem Restaurant, in dem ich zwei, drei Jahre gekellnert hatte, mein Abizeugnis, die ersten Artikel für denTagesspiegel. Das Regal gehörte zum Inventar der Wohnung und wie Waschmaschine, Schleuder und Kühlschrank dem Hauptmieter, der vier Jahre zuvor mein Li