In den letzten Tagen war es noch kühl gewesen, der Duft des Flieders liegt über dem Asphalt der Vorbergstraße, Apostel-Paulus-Kirche, Schwäbische Straße, freihändig auf dem Rad, und die weißen Kastanien werfen ihre ersten Blütenblätter ab, ich weiß es bis heute. Unzählige Details dieses Tages haben sich in meine Erinnerung gebrannt. Das Datum sollte ich später in meinen Ring gravieren lassen.
Den Ring hatte ich einige Jahre zuvor beim Putzen auf dem Boden gefunden. Er gehörte niemandem. Die Leute, bei denen ich arbeitete, hatten mir gesagt, ich solle ihn behalten. Es war ein einfacher hellgoldener Ring, zu schmal für einen Ehering. Als Stephan mir im ersten Jahr unserer Liebe eines Abends den breiten gelbgoldenen Ehering seiner verstorbenen Großmutter über den Finger schob, damit ich ihn auf unabsehbare Zeit trüge, nahm ich meinen Findling vom Finger und gab ihm diesen im Gegenzug. So trugen wir jeder den Ring des anderen mit seiner jeweiligen Geschichte, wobei diejenige meines Rings noch unbekannt war.
Das gezielte Vergessen ist uns nicht möglich. Unseren Körpern so wenig wie unseren Seelen. Was wir nicht verstehen, fesselt uns. Auf dem Rücken liegen wir im Sand, das Rauschen des Meeres im Ohr und auf der Haut, in unseren Knochen, an unseren Membranen, betrachten wir die Sterne über uns, um uns das schwarze All, aus dessen Weite uns ihr altes Licht erreicht. Wenn in dieser Nacht seine Wellen auf unsere Netzhaut treffen, wir das Funkeln und Flimmern und Flackern sehen, uns beglücken lassen, wissen wir bloß, dass manch einer der Sterne längst erloschen ist. Mit Stephan liege ich so. Auf dem Sand an der ligurischen Küste und auf dem Felsen über dem Meer am Haus seiner verstorbenen Großeltern, wir liegen so nebeneinander auf den schwarz-weißen Feuersteinen an der Ostsee und im Gras der Mecklenburgischen Seenplatte. Zusammen staunen wir über die Schönheit der Welt. Wir strecken uns, träumen einander zu, entfalten phantastische Geschichten, stellen uns die einfachen Fragen unserer Herkunft und erzählen davon, tauschen uns aus, widersprechen, lachen, berühren uns, bald interessieren uns mehr die philosophischen Fragen nach Leben und Tod, das Erweitern von Wahrnehmung und Bewusstsein, woher und wohin, nächtelang, wir genießen die Erregung aus Neugier und Empfinden der Unermesslichkeit. Denke ich daran, ist es Gegenwart.
Er war schmal, das kastanienbraune Haar schimmerte in Wellen, ein knabenhafter Junge mit einer tiefen und warmen Stimme. Seine Haut war gezeichnet, auf dem Bauch trug er mehrere Narben, zwei von fast zwanzig Zentimetern Länge und kleinere. Es hatte vor unserer gemeinsamen Zeit eine Notoperation geben müssen. Er kannte Schmerz und Narkose.
Zu seinem neunzehnten Geburtstag schenkte ich Stephan FaulknersWilde Palmen mit der Widmung: Aus Freude über einen kurzen Augenblick. Er sagte mir Monate später, er glaube, er werde nicht sehr alt.
Stephan hatte mich am Vormittag des sonnigen Maitages angerufen, er wollte mich später treffen, unbedingt. Er schraubte an seinem neuen Fahrrad – als Linkshänder wollte er die Bremsen von Vorder- und Hinterrad vertauschen. Ich weiß noch, wo ich während dieses Gesprächs in meiner Wohnung in der Schöneberger Hauptstraße stand. Sobald das Telefon klingelte, musste ich das Fenster schließen, weil der von unten dröhnende Verkehr zu laut war. Wie mein Blick auf die Bücher fiel, ein altes hölzernes Postregal mit hohen Fächern, in dem ich die halbe Bibliothek meines Vaters mit Baudelaire und Stendhal, Sartre und Camus untergebracht hatte, daneben standen die Ordner mit Sozialhilfeanträgen, Halbwaisenrentenanträgen, Kleideranträgen, der Sterbeurkunde meines Vaters, meinem Antrag auf Wiederaufnahme in das Schulsystem nach den fast zwei Jahren meiner Abwesenheit 87/88, Praktikumsbescheinigungen, Steuerkarten und Honorarblätter aus dem Restaurant, in dem ich zwei, drei Jahre gekellnert hatte, mein Abizeugnis, die ersten Artikel für denTagesspiegel. Das Regal gehörte zum Inventar der Wohnung und wie Waschmaschine, Schleuder und Kühlschrank dem Hauptmieter, der vier Jahre zuvor mein Li