: László Krasznahorkai
: Herscht 07769 Florian Herschts Bach-Roman
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104909738
: 1
: CHF 19,00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 416
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Kana wäre eine vergessene Stadt irgendwo in Thüringen, hätte ihre abgelegene Trostlosigkeit nicht Neonazis angelockt. Die Einwohner betrachten sie mit Angst und Argwohn. Allein Florian Herscht meint, er habe Freunde auf beiden Seiten: ein hilfsbereiter Muskelprotz, der sich vor Tattoos fürchtet und glaubt, das Universum stürze demnächst ins Nichts. Um alle vor der vermeintlichen Katastrophe zu warnen, schreibt er Briefe an Frau Merkel, die ohne Antwort bleiben. Doch seine Unschuld macht ihn hellsichtig, und nur die Musik Bachs kann ihn trösten. Plötzlich tauchen am Waldrand Wölfe auf, die Apokalypse rückt tatsächlich näher... Literarisch mit großem Sog überrascht László Krasznahorkai mit einem Roman voll beängstigender deutscher Gegenwart, mit melancholischem Humor und abgründigem Sarkasmus. »Lange ist mir ein Protagonist nicht mehr so ans Herz gewachsen wie Florian Herscht. Gemeinerweise kann man in diesem Buch nie aufhören zu lesen. Ich sage es nicht mal neidisch, sondern als Beschenkter: László Krasznahorkai hat den heutigen deutschen Roman geschrieben.« Ingo Schulze »Dieses Buch ist wie der Teilchenbeschleuniger, vor dem sich Herscht so fürchtet... Ein unfassbarer Teufelstango!« Clemens Meyer

»Jedes meiner Bücher soll die literarische Landkarte verschieben«, sagt László Krasznahorkai, dem 2015 der International Man Booker Prize verliehen wurde. 1954 in Gyula/Ungarn geboren, gilt er als einer der innovativsten Schriftsteller Europas, dessen Romane »Satanstango« und »Melancholie des Widerstands« überall auf der Welt begeistert aufgenommen werden. Die internationale Beachtung begann jedoch 1993 in Deutschland mit dem SWR-Bestenliste-Preis für »Melancholie des Widerstands«. In den letzten Jahren erschienen die Erzählbände »Seiobo auf Erden« (Brücke-Berlin-Preis und Literaturpreis Leuk 2010) sowie »Die Welt voran« (2014). Für seinen Roman »Baron Wenckheims Rückkehr« (2018) wurde er mit dem National Book Award 2019 for Translated Literature ausgezeichnet. 2021 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur sowie 2024 den spanischen Literaturpreis Prix Formentor. Zuletzt erschienen der Roman »Herscht 07769« und der Erzählband »Im Wahn der Anderen«. Heute lebt László Krasznahorkai in Triest, Italien.
die Stille in Berlin

und Herr Köhler hat dir mit Sicherheit nicht gesagt, dass er irgendwohin fahren wollte?, nein, er hat nichts dergleichen gesagt, nur dass ich ihn nicht in meine Sache hineinziehen soll, aber du hast ihn ziemlich in deine Sache hineingezogen, Frau Ringer senkte traurig den Kopf, als wäre schon alles aus, dabei war es noch nicht aus, der Boss zum Beispiel sagte zu ihm, Florian, jetzt ist unsere Zeit gekommen, als sie ein paar Tage später nach der Arbeit, und wieder waren sie in Ilmenau viel früher fertig gewesen als sonst, nicht nach Hause fuhren, sondern auf der A71 nach Dornheim, der Boss fuhr sofort zur Traukirche, klingelte im Pfarramt, dann unterhielt er sich lange mit dem Pfarrer, Florian wartete zwei Schritte entfernt, und so hörte er genau, worüber, dass nämlich zum Schutz der thüringischen Werte in den nächsten Wochen, vielleicht Monaten, Leute auftauchen und nachts die Kirche bewachen würden und dass man, sobald man irgendetwas Ungewöhnliches um die Kirche herum bemerke, vor allem auf fremde Jugendliche achten und sich sofort bei ihm melden solle, hier sei die Nummer, unter der er Tag und Nacht erreichbar sei, dann verabschiedeten sie sich von dem Pfarrer, der sichtlich verstört ins Pfarramt zurückkehrte, und gingen um die Kirche herum, der Boss tat wieder, was er das vergangene Mal getan hatte, er schaute sich überall um, machte aus verschiedenen Entfernungen und von verschiedenen Straßen, vom Angertor, der Neuen Straße und der Kirchgasse, Fotos vom Eingang, doch auch danach verließen sie Dornheim nicht, sondern klingelten nicht weit von der Kirche am Wolfsbach bei einem gewissen Möller, ein gewisser Möller, so bemerkte der Boss, bevor er auf die Klingel drückte, und sah Florian vielsagend an, doch worüber sie sprachen, das hörte Florian nicht mehr, denn als ein gewisser Möller auftauchte, schickte der Boss ihn weg, er solle schauen, was es bei Poppitz auf der Speisekarte gebe, doch der Boss erinnerte sich falsch, wenn er meinte, dass man bei Poppitz zu Mittag essen konnte, Poppitz war nämlich nur ein Bäcker, kein Restaurant, doch als er zurückgehen wollte, um ihm zu sagen, dass sie bei Poppitz höchstens ein Brot kaufen könnten oder einen Apfelstrudel, tauchte der Boss schon mit dem Opel auf der Hauptstraße auf, nicht so schlimm, sagte er, zuckte die Achseln und bog auf die A71, dann werden wir eben zu Hause mittagessen, und so war es, sie aßen zu Hause Mittag und so wie immer, getrennt, der Boss fuhr nach Hause und aß etwas Kaltes, was meistens nichts Kaltes, sondern eine aufgewärmte Konserve bedeutete, und er ging zu Ilona auf eine gute Bockwurst und die Stimmung, die er auch brauchen konnte, bevor er zu der Bank am Saaleufer ging, denn dort musste er ernsthaft darüber nachdenken, was in aller Welt die seltsamen Fragen bedeuten mochten, die Frau Ringer ihm gestellt hatte, woran konnte Frau Ringer gedacht haben, er hatte irgendwie das Gefühl, als hinge über ihm eine Anklage, die völlig unbegründet war, noch dazu anstatt ihn dessen anzuklagen, dessen man ihn wirklich hätte anklagen können, doch am meisten musste er darüber nachdenken, was er tun sollte, um den Herrn Köhler zu finden, denn schon auf dem Weg zur Saale, in der engen kleinen Straße, die an der Kleingartenanlage entlang zur Saale und den Sportplätzen führte, schon da hatte er beschlossen, nicht tatenlos zuzusehen, was geschah, er selbst würde ihn suchen, und sofort fiel ihm Herrn Köhlers Freund ein, wenn jemand, dann wusste der sicher, wo der Herr Köhler war, alle, die ihm, dem Herrn Köhler, nahestanden, wussten, dass er sein bester Freund war, obendrein seit der Kindheit, Herr Dr. Tietz in Eisenberg, ich gehe zu ihm, so beschloss Florian, er sah auf seine Uhr, doch für heute war es schon zu spät, okay, dann morgen, und so geschah es, noch am Abend suchte er im Herbstcafé den Fahrplan, wann Busse und Züge nach Eisenberg fuhren und zurückkamen, und am nächsten Tag nach der Arbeit rasierte er sich schnell, weil es wieder nötig war, dann erreichte er gerade noch denJES um fünfzehn Uhr dreißig und fuhr bis Jena Paradies, dort stieg er in den Bus und war nach genau zwanzig Stationen auch schon da, und obwohl er noch nie in Eisenberg gewesen war, war Dr. Tietz sehr leicht zu finden, denn der Erste, den er fragte, als der mit ihm aus dem Bus stieg, zeigte quasi sofort auf das Gebäude, in dem Dr. Tietz seine Praxis hatte, nur dass Dr. Tietz keine Sprechstunde mehr hatte, das war das Problem, doch Florian gab nicht so leicht auf, wenn er schon hergekommen war, er hatte Glück, dass Dr. Ti