Kapitel1
Ellis Island, New York, Mai1939
Hätte jemand Hannah vor ihrer Abreise gefragt, wie sie sich ihre neue Heimat vorstellte, wäre ihr keine Antwort eingefallen. Die Bilder in ihrem Kopf waren zu verschwommen, um sie in Worte zu fassen. Doch eines hätte sie, ohne zu zögern, ausgeschlossen: dass ihr neues Leben seinen Anfang hinter Gittern nehmen würde. Aber genau das war geschehen. Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie auf die Flaggen mit den Sternen und Streifen über ihr, während eine höhnische Stimme in ihrem Kopf raunte:Willkommen im Niemandsland.
Sie saß fest. Die letzten sechs Wochen hatte sie in einem Gemäuer auf einer winzigen Insel verbracht. Auf den ersten Blick erinnerte es an einen französischen Palast, den man durch drei imposante Torbögen betrat. Sein roter Backstein wurde von den üppigen Verzierungen aus Kalk und Granit nahezu komplett verdeckt.
Im Innern des prächtigen Baus sah es weit weniger vielversprechend aus. Abend für Abend wurden sie ab halb acht zusammen mit einem Dutzend fremder Frauen und Kinder in die Schlafsäle verbannt. Dann wurden die Türen verschlossen und erst am nächsten Morgen um halb sieben mit dem Weckruf »Zeit aufzustehen!« wieder geöffnet. Und die Tage verbrachten sie eingepfercht mit Hunderten von weiteren Menschen im Aufenthaltssaal.
Hannah hätte all die glorreichen Erzählungen über Amerika längst als Märchen abgetan, hätte man ihr nicht schon die Wolkenkratzer unter die Nase gerieben, wie man dem Hund einen Knochen vorhält. Gemeinsam mit ihrer Schwester Ada hatte sie auf dem Deck des Schiffes gestanden und die Silhouette Manhattans mit den Augen verschlungen. Dort entließ man die Reisenden der ersten und der zweiten Klasse in die Freiheit. Auch die Passagiere der dritten Klasse und des Zwischendecks verließen das Schiff, nur dass auf sie eine Fähre wartete, um sie schnellstmöglich abzutransportieren.
»Wir fahren nach Ellis Island«, hatte einer der Beamten angekündigt –, und ein Mitreisender erwiderte leise: »Die Insel der Tränen«. Niemand hatte die Schwestern vorgewarnt. Sie hatten auf das versprochene goldene Tor gehofft, das ihnen eine neue Welt eröffnen würde. Seither bezahlte Hannah den winzigen Moment der Trunkenheit, den sie angesichts der Stadt empfunden hatte, mit einem anhaltenden Kater. Die trostlose Anlage im Hudson River war kaum größer als ein Stadtpark. Jedes Gefühl der Zugehörigkeit zu einer realen Welt jenseits des Wassers löste sich im Laufe der verlorenen Stunden im Wartesaal auf. Es gab nichts zu tun, außer abzuwarten, ob man sie für wert oder unwert erachtete, Amerikaner zu werden.
Nachdenklich betrachtete Hannah ihre Schwester. Sie folgte Adas Blick entlang der endlosen Tischreihen und überfüllten Bänke, empor zu den Fenstern, wo sie den Rumpf der Freiheitsstatue erkannte.
»Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, …« Ada seufzte. »Von wegen. So müde, wie ich bin, hätte sie mich begeistert in ihre Arme schließen müssen.« Ein Mitarbeiter der Hebrew Immigrant Aid Society hatte bei seiner Begrüßung die Inschrift auf dem Sockel des Wahrzeichens zitiert. DieHIAS half jüdischen Einwanderern, sich in ihrer neuen Heimat zurechtzufinden, und entsandte ihre Leute sogar bis