Das fremdgewordene Leben
Wir können so viel: Berge besteigen, Gedichte analysieren, Kurven berechnen, Torten backen. Wir können Ironie zwischen den Zeilen lesen, Erregung im Beben der Stimmbänder heraushören und Zustimmung an den Gesten unseres Gegenübers erkennen. Was nur wenige von uns können: auf sich selbst achtgeben und Grenzen ziehen, so dass es uns möglichst lange gut geht und wir rechtzeitig die notwendigen Entscheidungen treffen können, damit uns der Sog in die Dunkelheit – die sogenannte Krise – nicht mitreißt. Und was die wenigsten wissen: Was tun, wenn uns plötzlich alles überfordert und sich die Gedanken und Gefühle in der Brust zu einem unentwirrbaren Wollknäuel ineinander verheddern?
Wie man damit umzugehen hat, ob man dem überhaupt Beachtung schenken sollte, hat uns keiner gesagt. »Weitermachen, weitermachen!«, ruft jemand, und wir hinterfragen es nicht, machen weiter, ohne Halt, ohne Pause. Weil alle es halt so machen. Weil Schwäche zeigen nicht angesagt ist, weil wir ad hoc keine Lösungen kennen und weil das Schweben im Nichtwissen uns unerträglich erscheint. Da bleiben wir lieber im Sumpf der Traurigkeit, der Krise. Und ein Blick in die Gesichter in unserem Umfeld bestätigt uns: Ja, das ist scheinbar normal, wenn man erwachsen ist und Job, Kinder, Verantwortung hat.
Was wir interessanterweise jedoch wissen, ist, was wir tun und lassen müssen, um klein zu werden oder es zu bleiben. Wenn ich mich mit Menschen zu diesem Thema unterhalte, scheint es mir so, als gäbe es einen geheimen Code, der besagt: »Du darfst nicht größer, erfolgreicher, glücklicher werden als dein Umfeld. Bleib dort, wo du hineingeboren wurdest, füge dich dem, was für dich vorgesehen war – von wem auch immer, warum auch immer!«
Die meisten Menschen halten sich daran. Sie schweigen, sie arbeiten still vor sich hin, sie ertragen toxische Beziehungen, sie beschweren sich häufig, lächeln selten. Doch sie handeln einfach nicht. Sie sagen das eine und machen das Gegenteil davon. Sie sagen, dass sie Sehnsucht nach einer erfüllten Beziehung haben, aber bleiben in einer Verbindung, in der sie sich einsam fühlen. Sie sagen, dass sie unbedingt ihre Arbeitsstelle wechseln wollen, haben aber an jedem Jobangebot etwas auszusetzen.
Kein Wunder, dass am Ende so viel Verwirrung in ihnen steckt und sie selbst nicht mehr wissen, wer sie sind, was sie wollen, in welcher Phase des Lebens sie sich befinden und wovon sie eigentlich – damals, als Kind, als Jugendliche – träumten.
Das stumme Ertragen kann lange funktionieren. Je nachdem, welcher Charaktertyp du bist, welche Themen dich beschäftigen, wie leidensfähig du bist und/oder wie gut du dich abgelenkt bekommst. Doch irgendwann, das ist unvermeidbar, spricht die Seele Klartext, so dass du nicht mehr so tun kannst, als sei alles in Ordnung. Sie kommuniziert über Überforderung, über Schmerzen, über Konflikte, über die unendliche Traurigkeit in uns. Irgendwann zwingt sie uns dazu, nicht mehr wegzuschauen und deutlich ihre Botschaft zu hören: »Ich kann nicht mehr!«
Bestimmt kennst du das Gefühl, das dann kommt. Es breitet sich von der Bauchmitte aus. Wie ein etwas unverschämter Besucher macht es sich gemütlich und nimmt immer mehr Raum ein. Wir sind dauermüde und schlafen schlecht. Wir kämpfen mit uns selbst. Wir schieben es auf das Wetter, die Hormone, das fettige Essen am Abend, zu wenig Sport, zu viel Arbeit.
Es ist nicht außergewöhnlich, dass in dieser Zeit des Wandels besonders bescheuerte Dinge passieren, die wir elegant als »Fauxpas« abtun. Der kleine Zeh wird besonders oft angestoßen (oder schlimmere Unfälle), die vereinbarten Termine werden vergessen, die Autotür