: Valentin Groebner
: Bin ich das? Eine kurze Geschichte der Selbstauskunft
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104914466
: 1
: CHF 16.00
:
: Gesellschaft
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Was steckt eigentlich hinter dem neuen Zwang, sich zu zeigen? Mit viel Humor, Selbstironie und klugen Beobachtungen erzählt Valentin Groebner - »eine(r) der coolsten Geschichtswissenschaftler momentan überhaupt« (litera.taz) - seine kurze Geschichte der Selbstauskunft. Denn ob im Bewerbungsgespräch oder per Instagram-Account, bei der Teambildung oder im Dating-Profil: Ohne Selbstauskunft geht heute nichts. Sie ist sowohl Lockstoff als auch Pflicht, steht für Reklame in eigener Sache und das Versprechen auf Intensität und Erlösung, in den Tretmühlen der digitalen Kanäle ebenso wie in politischen Debatten um kollektive Zugehörigkeit. Aber wie viel davon ist eigentlich Zwang, und wie viel Lust? Was haben wir, was haben andere vom inflationären Ich-Sagen und Wir-Sagen? Diesen Fragen geht Valentin Groebner auf der Suche nach dem Alltäglichen nach. Er zeigt, was historische Beschwörungen der Heimat mit offenherzigen Tattoos gemeinsam haben, und was den Umgang mit alten Familienfotos und demonstrative Rituale des Paar-Glücks (Stichwort Liebesschlösser an Brückengeländern) verbindet. Doch ist öffentliche Intimität wirklich die Währung für Erfolg - oder eine Falle?

Valentin Groebner, geboren 1962 in Wien, lehrt als Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Er war u.a. Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg sowie am Europäischen Hochschulinstitut Florenz und Professeur invité an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Er ist der Autor zahlreicher Bücher zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte; seit 2017 ist er Mitglied in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Bei S. Fischer erschienen von ihm die Bände ?Ich-Plakate. Eine Geschichte des Gesichts als Aufmerksamkeitsmaschine? und ?Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach den Authentischen?.

Immunsysteme


Ob Polizist in Bayern oder Professor in der Schweiz, jede und jeder kommt sich selbst einzigartig und so außergewöhnlich wie möglich vor. Aber das eigene Wohlbefinden, und noch viele andere Dinge mehr, wie Arbeitsmöglichkeiten, Bewegungsfreiheit, Selbstbestimmung, sind direkt abhängig von unsichtbaren, machtvollen Kollektivkörpern. Sie sind, wie wir2020 gelernt haben, als Immunsysteme organisiert.

In Immunsystemen ist man immer Teil eines Kollektivs, unabhängig davon, als wie individuell man sich selbst beschreibt und ob man mitmachen will oder nicht. Dem reiselustigen Mikroorganismus, der im Herbst2019 zum ersten Mal beschrieben worden war, waren die fein differenzierten Selbstbeschreibungen seiner menschlichen Wirtsorganismen – juristische und politische Unterschiede, religiöse und kulturelle Zugehörigkeiten – völlig egal. Das Virus reproduzierte sich in schiitischen Pilgern und maoistischen Parteikadern, in sächsischen Altenpflegerinnen und im britischen Premierminister. Der neue Mitbewohner machte keinen Unterschied zwischen den Körpern, deren Inhaber sich so verschieden vorgekommen waren.

Die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der neuen Krankheit ließen all die einzigartigen Individualitäten ebenfalls unwichtig aussehen. Einreise- und Ausgangssperren, die Verpflichtung zu Gesichtsmasken, Quarantäne und zum Daheimbleiben galten für alle, ausnahmslos. Der Wechsel vom selbstverständlichen Reisen zum behördlich untersagten Risikoverhalten war ebenfalls drastisch – wie war das noch mit der selbstbestimmten Mobilität und Individualität als unseren westlichen Werten, auf die wir so stolz waren? Die Digitalisierung war plötzlich nicht mehr selbst gewähltes Werkzeug oder zusätzliche Option, sondern Zwang; die einzig verbliebene Möglichkeit für Musik, Theater und Treffen ohne Maske. Was vorher verlockendes neues Mehr an Kontakt gewesen war, war jetzt seine etwas pixelige Simulation. Vom glitzernden Simulakrum zum einzig noch möglichen Ersatz: Ging ziemlich flott.

August2020, ein Witz. Ein Immunologe und ein Kardiologe werden in denUSA gekidnapped. Erst einmal, sagen die Entführer zu ihnen, müssten sie herausfinden, wer von beiden der Wichtigere sei. Den anderen würden sie erschießen. Also: Wer leiste den größeren Beitrag für die Menschheit? »Ich«, ruft der Herzspezialist, »habe Medikamente entwickelt, die Leben von Millionen Menschen verlängert haben!« Die Kidnapper sind beeindruckt. »Und Sie?«, fragen sie den Immunologen. »Wissen Sie«, sagt der, »das Immunsystem ist extrem kompliziert, und …« »Erschießen Sie mich doch jetzt gleich«, sagt der Kardiologe.[7]

Diesen Witz erzählen offensichtlich Mediziner einander; wenigstens kommen sie in ihm sehr gut weg. Der eine Arzt ist extrem bescheiden, der andere gibt sofort zu, dass sein Kollege wichtiger sei als er. Lob hatten amerikanische Ärzte im Coronajahr2020/21 offenbar nötig – notfalls eben selbst gespendetes. Die Gesundheitssysteme des wohlhabenden Westens, die kostspieligsten des Planeten, sahen gar nicht gut aus angesichts der ansteckenden Krankheit. Ich-Sagen, erinnert uns der Witz, findet immer vor Publikum statt. Für wen und zu wessen Nutzen erzähle ich von mir?

Wer von Herkunft und Heimat redet, das zeigt der bayrische Polizist mit seinem Wikingerpullover, gibt dabei sehr viel weniger über kollektive Zugehörigkeiten aus der Vergangenheit Auskunft als über sich selbst, jetzt. Aber wer von sich selbst spricht, präsentiert seine eigene individuelle Besonderheit gewöhnlich – ganz wie der Polizist – mit Verweisen auf Altes. Diese Auswahl aus der Vergangenheit, dieses kleine Stück von früher, so die Botschaft, das bin ich. Denn dafür wird die Vergangenheit am häufigsten gebraucht – zur Selbstdarstellung.

Wer sich auf diese Weise mit der Vergangenheit beschäftigt, möchte, dass sie von ihm selbst handelt, ganz persönlich. Das Bild, das