: Peter Weibel
: An den Rändern
: edition bücherlese
: 9783906907482
: 1
: CHF 17.00
:
: Erzählende Literatur
: German
: 144
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Mann geht immer wieder zum Bahnhof, immer wieder zu den Geleisen, um vielleicht zufällig Hannah wiederzusehen, mit der er eine Familie hätte gründen können. Gregor findet sich am Berg, im Reich der Steine, von Schemen seiner Vergangenheit umgeben. Joshua will noch einmal ans Meer, bevor alles zu Ende geht. An den Rändern - der Gesellschaft, des Lebens - bröckeln die Gewissheiten. Zugleich öffnen sich andere Perspektiven. Peter Weibels neue Erzählungen handeln von Menschen, die sich abhandengekommen oder in Institutionen verloren gegangen sind, von Menschen, die bald gehen werden und von jenen, die zurückgeblieben sind. Es sind Geschichten von Widerstand und Hoffnung, erzählt mit grosser Wärme und Sensibilität.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschein ein erster Prosaband, Schmerzlose Sprache, seither veröffentlich er regelmäßig Prosa und Lyrik. Er erhielt unter anderem einen Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband Die blauen Flügel (2013) und den ersten Kurt Marti Literaturpreis für MENSCH KEUN (edition bücherlese, 2017). Für die Texte 'Hannah' und 'Kocherpark' beim Bund-Essay-Wettbewerb 2015 bzw. 2019 ausgezeichnet. Zuletzt erschien Schneewand (edition bücherlese). Peter Weibel lebt in Bern.

HERZVERSAGEN


An Tagen wie diesem, wenn die schwarzen Schatten nicht wegwollen, lässt Christa einfach alles liegen und geht zur Grossen Schanze hinauf, zu der eisernen Sitzbank, wo sie oft neben Vincent gesessen hat. Er hat diesen Platz geliebt, den Blick über die ineinander geschobenen Dächer, über die Bundeshauskuppel zur Alpenkette hin, zu den Wolkenstimmungen, er hat sich dann unbeirrt neben den bronzenen Einstein gesetzt und reglos und nachdenklich ins Weite geschaut wie sein festgeschraubter Nachbar. Jetzt hat man den erstarrten Denker abmontiert, nur die Schraubenlöcher sind noch da und die abgenutzte Sitzfläche auf dunklem Metall, daneben der Sockel mit Inschrift zu Einsteins berühmter Formel, E = mc2. Energie lässt sich in Masse umwandeln und umgekehrt.

Christa weiss nicht mehr, wann sie zum letzten Mal mit Vincent zusammen da war. Sie hat das Gefühl, es ist Jahre her, aber es sind nur ein paar Monate. Vincent konnte nur noch mit Mühe gehen, eigentlich gar nicht mehr, aber er wollte das, er wollte noch einmal zu seinem Platz, Christa kann noch heute hören, wie er geatmet hat, er hat geatmet, als wäre nie genug Luft da, als wäre nicht einmal zum Sitzen und Schweigen genug da. Er hat noch immer darauf gewartet, dass etwas geschieht, dass etwas zu Ende geht, vielleicht hatte er das Warten auch schon aufgegeben, Christa kann das nicht mehr sicher sagen. Wie lange hält mein Herz noch durch?

Hinter Neubauten und Baukränen ist der hohe Klotz des Unispitals nicht zu sehen, wo man Vincent einen Tag lang von Untersuchung zu Untersuchung geschleppt hat, wo die Gesichter immer ernster wurden, immer verschlossener, und man schliesslich versuchte, es ihm so schonend wie möglich zu sagen: Ohne Spenderherz können Sie nicht überleben.

Der Rasenplatz vor der Uni ist jetzt kalt und leer, nur ein paar Kinder toben lustlos herum, werfen sich auf die leeren Liegestühle, die wie kahle Gerippe herumstehen. Die jungen Wilden sind weg, die hier im Sommer ihre Freizeit zelebrieren, träge ausgestreckt oder eng umschlungen und elektrisiert vom Sound ihrer Technorhythmen. Auch die Schachspieler sind weg. Eine Gruppe von Japanern mit Fotoausrüstung kommt aufgeregt näher, bleibt gestikulierend und ratlos stehen. Einstein ist weggesperrt, sagt Christa, he is in reparation, vielleicht kommt er mit neuem Metallglanz und winterfest wieder zurück. Die Japaner nicken und lachen zustimmend, Christa ist sich nicht sicher, ob s