: Fjodor M. Dostojewski
: Aufzeichnungen aus dem Untergrund Roman
: Manesse
: 9783641272357
: Manesse Bibliothek
: 1
: CHF 12.70
:
: Erzählende Literatur
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Abrechnung eines Zukurzgekommenen - Urbild aller Wutbürger, Menschen- und Weltverächter
Ein ehemaliger Beamter sitzt verbittert in seiner Kellerwohnung am Stadtrand von St. Petersburg und klagt die Welt an. Obwohl erst in den Vierzigern, hat er seinen Dienst quittiert und lebt von einer kleinen Erbschaft mehr schlecht als recht. Was seinen Furor erregt, ist der »moderne Mensch« und die von diesem geprägte Gesellschaft. Mit hemmungsloser Offenheit berichtet er auch über seine eigenen Erfahrungen des Scheiterns, von Entfremdungen und Missverständnissen. Je weiter er sich in seine Generalabrechnung hineinsteigert, desto unerbittlicher wird er gegen sich selbst.

Dostojewskis meisterliche psychologische Studie besticht durch die Suggestivkraft einer durch und durch radikalen Selbst- und Weltbeschreibung. Pünktlich zum 200. Geburtstag des Autors am 11.11.2021 erscheint dieses große kleine Werk in Neuübersetzung durch Ursula Keller.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) war das zweite von acht Kindern einer verarmten Adelsfamilie aus Moskau. Vier Jahre Zwangsarbeit wegen revolutionärer Umtriebe prägten sein Leben ebenso wie seine Spielleidenschaft und daraus resultierende Geldsorgen. Neben neun Romanen verfasste Dostojewski ab 1846 zahlreiche Erzählungen, Novellen und Essays.

VII

Doch all dies sind goldene Träume. Oh, sagen Sie doch, wer als Erster erklärt hat, wer als Erster behauptet hat, dass der Mensch nur deshalb niederträchtig handele, weil er seine wahren Interessen nicht kenne; und dass er, wenn man ihm Bildung zukommen ließe, wenn man ihm die Augen öffnete für seine wahren, normalen Interessen, aufhörte, niederträchtig zu handeln, auf der Stelle edel und gut würde, weil er, gebildet und um seine wahren Vorteile wissend, eben im Guten seinen eigenen Vorteil sähe, weil ja der Mensch bekanntermaßen nicht vorsätzlich gegen seinen eigenen Vorteil handeln kann, folglich also, sozusagen, aus Notwendigkeit heraus Gutes tun würde? O Lamm Gottes! O reines, heiliges Unschuldslamm! Ja wann hat der Mensch, erstens, in all den Jahrtausenden, denn jemals einzig aus eigenem Vorteil gehandelt? Was tun mit den Millionen Fakten, die bezeugen, dass Menschenwissentlich, also in vollem Bewusstsein ihres wahren Vorteils, diesen hintangestellt und sich auf einen anderen Weg begeben, sich ins Risiko gestürzt und dem Zufall überlassen haben, von niemandem dazu genötigt, als hätten sie schlicht den vorgegebenen Weg nicht gehen wollen, sondern eigensinnig und stur einen anderen, schweren, ungeeigneten, den sie gleichsam trotz der Finsternis gefunden haben. Das heißt doch, dass ihnen ihr Eigensinn und ihre Sturheit tatsächlich wichtiger waren als jeglicher eigene Vorteil … Vorteil! Was ist ein Vorteil? Ja haben Sie die Stirn, absolut genau zu bestimmen, worin eben der Vorteil für den Menschen besteht? Und was, wenn sich ergibt, dass der Vorteil für einen Menschenbisweilen nicht nur darin bestehen kann, sondern buchstäblich darin bestehen muss, dass er in einem bestimmten Fall für sich das Übel und nicht den Vorteil wünscht? Und wenn dies zutrifft, wenn ein solcher Fall tatsächlich eintreten kann, dann ist die gesamte Regel nichtig. Was meinen Sie, ist ein solcher Fall möglich? Sie lachen; lachen Sie ruhig, meine Herrschaften, aber antworten Sie auch: Sind denn die menschlichen Vorteileabsolut zutreffend erfasst? Existieren nicht auch solche, die nicht nur keiner Klassifikation unterzogen sind, sondern sich dieser auch nicht unterziehen lassen? Denn Sie, meine Herrschaften, leiten doch, soweit ich weiß, Ihr gesamtes Register menschlicher Vorteile aus dem statistischen Durchschnitt und den Formeln der Wirtschaftswissenschaft her. Denn Vorteil, nun, das ist für Sie Wohlergehen, Reichtum, Freiheit, Ruhe und so weiter und so weiter; somit wäre jemand, der, beispielsweise, offensichtlich und wissentlich gegen dieses Register verstieße, Ihrer und, nun, selbstverständlich auch meiner Ansicht nach ein Obskurant oder vollkommen Geisteskranker, nicht wahr? Aber Folgendes ist doch erstaunlich: Wie kommt es, dass alle Statistiker, Gelehrten und Menschenfreunde bei der Erfassung der menschlichen Vorteile stets einen Vorteil beiseitelassen? Sie bringen ihn nicht einmal in der Form, in der es ihm anstünde, in Anschlag, und dabei hängt davon doch die ganze Berechnung ab. Es wäre kein allzu großer Schaden, diesen Vorteil aufzunehmen und ihn auf die Liste zu setzen. Aber das Verhängnis besteht ja eben genau darin, dass dieser vertrackte Vorteil keiner Klassifikation unterzogen werden kann und auf keiner Liste Platz findet. Ich, beispielsweise, habe einen Freund … Ach, meine Herrschaften! Er ist ja auch ein Freund von Ihnen; ja, und wessen, wessen Freund ist er denn nicht! Wenn er Vorbereitungen trifft, zur Tat zu schreiten, wird dieser Herr Ihnen schönrednerisch und klar darlegen, wie genau er den Gesetzen der Vernunft und Wahrheit entsprechend vorzugehen hat. Damit nicht genug: Erregt und leidenschaftlich wird er Ihnen von den wahr