Martha
GEISTER
Ich bin begraben. Sand und Kalk rieseln in meinen Mund. Das Heulen der Granaten hallt noch immer als Echo durch die Grüfte. Unter der Erde wimmern die Verschütteten. Ich höre das Weinen der Kinder, die sich an ihre Mütter pressen. Sie haben gelernt, leise zu sein, obwohl das nun völlig egal ist. So oder so wird niemand sie hören. Doch ich höre sie. Ich kämpfe mich mit blutenden Händen durch Schuttberge, die Haare kleben an meinem Gesicht. Rudernd wie eine Ertrinkende wache ich auf.
Die Schwärze bleibt, auch nachdem ich die Augen öffne. Ich habe keine Orientierung, weiß nicht, wo ich bin. Meine Finger betasten das Bett und die glatte Holzwand. Dann spüre ich Erna neben mir, die leise seufzt. Über mir auf der oberen Etage des Stockbetts der ruhige Atem von Karl, vom anderen Ende des Raumes das Schnorcheln von Vater. Ich bin nicht in einem Keller, ich bin in einem alten Bahnwaggon. In Obergünzburg. Im Allgäu. Die erste Nacht in meinem neuen Zuhause. Ich lege mich zurück in das schweißfeuchte Kissen und lausche. Kuhglocken schellen aus der Ferne, vor dem Fenster das Zirpen der Grillen und das Plätschern des Bachs, über dem Dach das sanfte Rauschen der Tannen. Langsam beruhigt sich mein Herz.
Da ist das Weinen wieder. Es kam nicht aus meinen Träumen, es kommt von draußen. Leise und unterdrückt, als würde jemand einem Kind die Hand vor den Mund pressen. Ich versuche, Erna zu wecken. Doch die schläft fest wie immer und dreht sich knurrend weg.
Vorsichtig taste ich mich zur Tür. Sie ist nicht abgesperrt. Vater schließt nie ab. Ich überquere den Bach, der direkt am Waggon vorbeifließt. Rechts säumt dichtes Gebüsch den Damm. Aus der finsteren Wand aus Zweigen und Blättern dringt das Weinen. So hoffnungslos, dass ich am liebsten mitheulen würde.
Ein dornengespickter Pfad führt ins Dickicht, der Eingang ist im Sternenlicht nur vage zu erkennen. Ich gebe mir einen Ruck und trete zwischen die Sträucher. Sofort hört das Klagen auf. Ich starre in die Schwärze und habe das Gefühl, dass ich selbst angestarrt werde. Was immer es ist, Mensch oder Tier, es lässt mich schaudern.
Ohne auf die Dornen zu achten und ohne mich umzuschauen, renne ich zurück zum Wagen. Im Bett horche ich noch lange hinaus in die Julinacht. Doch das Weinen ist verstummt. Selbst die Grillen schweigen.
*
»Ich dachte mir gleich, dass es hier spukt«, flüstert Erna. Sie ist von meinem nächtlichen Abenteuer wie elektrisiert. »Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Erna, das kann alles Mögliche gewesen sein. Es war stockdunkel, ich habe nichts gesehen. Und außerdem: Wie soll man dich bitte schön wach kriegen? Dich könnte man in der Nacht davontragen und du würdest es nicht merken.«
Erna boxt mich in den Arm und zieht einen Schmollmund. Wir sitzen auf der Bank vor dem Waggon und genießen die Morgensonne. Vater ist schon früh ins Dorf gegangen, um etwas zu Essen zu besorgen. Karl macht sich im Waggon zu schaffen. Wir hören ihn laut und falsch vor sich hin pfeifen.
»Ich bin sicher, dass es ein Geist ist«, beharrt Erna. »Weißt du noch, gestern Nachmittag, kurz nachdem wir ankamen, ist die Blechtasse aus dem Regal gefallen, obwohl keiner dran war. Und am Abend flackerte die Petroleumlampe, obwohl kein Wind ging. Und dann die Geräusche. Es knarzt und knirscht und raschelt die ganze Zeit. Wie die alten Kutter zu Hause im Hafen.«
Ich senke die Stimme. »Das ist kein alter Kutter, sondern ein Piratenschiff. Die Mannschaf