: Armin Nassehi, Peter Felixberger
: Kursbuch 206 Impfstoffe.
: Kursbuch Kulturstiftung gGmbH
: 9783961962150
: 1
: CHF 8.40
:
: Sozialwissenschaften allgemein
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Impfstoffe sind das neue Lebenselixier, die Türöffner zu einem Lebensalltag, wie wir ihn früher kannten. Dahinter lauert das mobile Hoffnungsmantra der Gegenwart: Wer geimpft ist, lebt länger, ist mobil, befreit und entfesselt. Zurück in die Spur! Biontech, Sputnik oder Moderna als die neuen Bewegungssanitäter im COVID-SOS. Bitte eintauchen in den sattsam bekannten Medienbrei. HALT! Kurswechsel. Das Kursbuch blickt tiefer, breiter und weiter. Impfstoffe sind eine systemische Metapher, wie man auf das Unerwartete, Plötzliche und Unscharfe vorbereitet wird. Wie impft man die Demokratie vor möglichen Gegnern? Kann man Verhaltensänderungen impfen? Ist Künstliche Intelligenz wirklich ein Beschleuniger für mehr Effizienz und Kompetenz? Hilft Bildung gegen das Elixier der Dummheit und ideologischer Verbohrtheit? Und wie funktionieren eigentlich Viren bei Tieren? Essays mit Substanz, verimpft von Armin Nassehi, Josef Reichholf, Käte Meyer-Drawe, Michael Leitl und Juliane Junge-Hoffmeister. Außerdem gehen bekannte Publizisten, Wissenschaftler und Kulturschaffende in kleinen Intermezzi der Frage nach, wogegen sie so richtig immun sind. Von Kurt Kister bis Birte Förster, von Udo di Fabio bis Petra Bahr. In dieser Ausgabe finden Leser und Leserinnen erstmals auch eine Arbeit des Infografik-Künstlers Jan Schwochow sowie eine Spotreportage rund um Impfzentren in Deutschland von Heike Littger. Und FLXX sucht zu guter Letzt Impfstoffreste in der früheren Politikwelt von Angela Merkel. Dieses Kursbuch ist ein Impfstoff mit garantierten Nebenwirkungen in Form von Sinngerinnseln im Gehirn.

ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universitä in München, Herausgeber des Kursbuchs und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem 'Mit dem Taxi durch die Gesellschaft', in der kursbuch.edition erschien zuletzt 'Das große Nein. Eigendynamik und Tragik gesellschaftlichen Protests'. PETER FELIXBERGER (*1960) ist Herausgeber des Kursbuchs und Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: 'Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?'

Dämonen, Heilige und Helden
Über Medizingeschichte und Literarisierung des ­Impfens

Ein Gespräch mit der Germanistin und Medizinhistorikerin ­Martina King

Von Peter Felixberger und Armin Nassehi

Kursbuch: Frau King, Sie sind Kinderärztin und Germanistin. Wie kamen Sie zu dieser Doppelausbildung? Was hat Sie angetrieben?

King: Nach meiner fachärztlichen Ausbildung war ich unzufrieden, habe deshalb noch Germanistik studiert und promoviert, parallel zur ärztlichen Tätigkeit. Dann stellte sich die Frage der Habilitation, wodurch ich den Verbindungslinien zwischen Medizin und Literatur ein weiteres Stück näherkam. Die Folge war eine Schrift über die Kulturgeschichte der Bakteriologie. Bei den Medizinhistoriker*innen war das Thema brandheiß und eigentlich sehr gut erschlossen. Überhaupt nicht beleuchtet war, dass Mikroben am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht nur in die Ritzen der Alltagskultur sickerten, sondern daraus hervorquollen. Die illustrierte Massenpresse, Zeit­schrif­ten wieDie Gartenlaube oderÜber Land und Meer sind voll von Bakterien­geschichten und Bakterienbildern. Jeder sucht sie im eigenen Badezimmer; man hat diese Mikrobenfixierung alsepidemic entertainment bezeichnet. Da gibt es zur COVID-Pandemie erstaunliche Parallelen. Sich auf das Unsichtbare als infektiöses Agens zu konzentrieren, ist damals und heute ein großartiges Schauspiel, was mit vielen bunten Bildern, heute mit bunten Kugeln, damals mit kleinen anthropomorphen Männlein einhergeht. Auch um 1900, als die Menschen begriffen, dass sie von einer Welt kleiner, unsichtbarer Widersacher umgeben sind, war es ein riesiges Medien-, Literatur- und Kulturspektakel, was sich bis zu Kandinsky und den Dadaisten erstreckt hat. Nach der Ha­bilitation überDas Mikrobielle in der Literatur und Kultur der Moderne, die Ende dieses Jahres unter diesem Titel als Buch erscheinen wird, habe ich mich noch intensiver der Kulturgeschichte zwischen Medizin und Literatur verschrieben. Es geht in meiner Forschung vor allem um Textualität, Poetizität und Medialität – und zwar von literarischen und medizinischen Texten. Jemand wie ich, mit einer Doppelausbildung, findet hier gut Platz. Ich wurde sowohl in Germanistik als auch in Medizingeschichte habilitiert, sodass ich an meinem Lehrstuhl hier in Fribourg ein gemischtes Team aus Medizinhistoriker*innen und Germanist*innen habe. Wir blicken sozusagen von zwei Seiten auf unsere Forschungsthemen.

Kursbuch: Gehen wir in medias res. Lässt sich eine beiderseitige Ge­schichtsschreibung im Umgang mit Impfstoffen erkennen und rekonstruieren?

King: Die Medizinhistoriker*innen haben das fabelhaft erschlossen. Es gibt sehr grundlegende Arbeiten über den Impfwiderstand im frühen 19. Jahrhundert. Oder über die Geschichte der Durchsetzung der Vakzination. Auch über die Durchsetzung der Pockenschutzimpfung rund um das Preußische Impfgesetz; ferner Arbeiten bis in die jüngste Vergangenheit, etwa mit der Durchsetzung der Masernimpfung in der DDR. Kulturhistorisch hingegen ist dieses Thema keineswegs gut untersucht.

Kursbuch: Was müsste man hinzufügen, um dieses Defizit auszu­gleichen?

King: Die kulturellen Dimensionen. Denn um 1800 gibt es noch keine institutionelle bzw. professionalisierte Medizin, sondern eine Ge­lehrten­medizin; und insofern ist das Impfen automatisch auch ein kulturelles Thema. Medizinische Fragen werden unter anderem in phi­losophischen, gelehrten Zirkeln verhandelt; sie sind ein Thema der aufkläreri­schen Anthropologie. Lassen Sie uns über die Anfänge der Pockenschutzimpfung reden, genau genommen über den Entwick­lungs­prozess von einer hochriskanten Technik, der Variolation oder des »Blatternbelzens«, hin zur Vakzination. Das ist ein Vorgang von höchster kultureller Tragweite. Bis hin zu Goethe und Kant äußerten sich zahlreiche privilegierte Sprecher aus den gebildeten Schichten dazu. Die dazugehörigen Darstellungen, Grafiken, literarischen Texte und Medien waren äußerst populär.

Kursbuch: Es ging bei der Pockenimpfung natürlich um die Durchsetzung von Dingen, g