Dämonen, Heilige und Helden
Über Medizingeschichte und Literarisierung des Impfens
Ein Gespräch mit der Germanistin und Medizinhistorikerin Martina King
Von Peter Felixberger und Armin Nassehi
Kursbuch: Frau King, Sie sind Kinderärztin und Germanistin. Wie kamen Sie zu dieser Doppelausbildung? Was hat Sie angetrieben?
King: Nach meiner fachärztlichen Ausbildung war ich unzufrieden, habe deshalb noch Germanistik studiert und promoviert, parallel zur ärztlichen Tätigkeit. Dann stellte sich die Frage der Habilitation, wodurch ich den Verbindungslinien zwischen Medizin und Literatur ein weiteres Stück näherkam. Die Folge war eine Schrift über die Kulturgeschichte der Bakteriologie. Bei den Medizinhistoriker*innen war das Thema brandheiß und eigentlich sehr gut erschlossen. Überhaupt nicht beleuchtet war, dass Mikroben am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht nur in die Ritzen der Alltagskultur sickerten, sondern daraus hervorquollen. Die illustrierte Massenpresse, Zeitschriften wieDie Gartenlaube oderÜber Land und Meer sind voll von Bakteriengeschichten und Bakterienbildern. Jeder sucht sie im eigenen Badezimmer; man hat diese Mikrobenfixierung alsepidemic entertainment bezeichnet. Da gibt es zur COVID-Pandemie erstaunliche Parallelen. Sich auf das Unsichtbare als infektiöses Agens zu konzentrieren, ist damals und heute ein großartiges Schauspiel, was mit vielen bunten Bildern, heute mit bunten Kugeln, damals mit kleinen anthropomorphen Männlein einhergeht. Auch um 1900, als die Menschen begriffen, dass sie von einer Welt kleiner, unsichtbarer Widersacher umgeben sind, war es ein riesiges Medien-, Literatur- und Kulturspektakel, was sich bis zu Kandinsky und den Dadaisten erstreckt hat. Nach der Habilitation überDas Mikrobielle in der Literatur und Kultur der Moderne, die Ende dieses Jahres unter diesem Titel als Buch erscheinen wird, habe ich mich noch intensiver der Kulturgeschichte zwischen Medizin und Literatur verschrieben. Es geht in meiner Forschung vor allem um Textualität, Poetizität und Medialität – und zwar von literarischen und medizinischen Texten. Jemand wie ich, mit einer Doppelausbildung, findet hier gut Platz. Ich wurde sowohl in Germanistik als auch in Medizingeschichte habilitiert, sodass ich an meinem Lehrstuhl hier in Fribourg ein gemischtes Team aus Medizinhistoriker*innen und Germanist*innen habe. Wir blicken sozusagen von zwei Seiten auf unsere Forschungsthemen.
Kursbuch: Gehen wir in medias res. Lässt sich eine beiderseitige Geschichtsschreibung im Umgang mit Impfstoffen erkennen und rekonstruieren?
King: Die Medizinhistoriker*innen haben das fabelhaft erschlossen. Es gibt sehr grundlegende Arbeiten über den Impfwiderstand im frühen 19. Jahrhundert. Oder über die Geschichte der Durchsetzung der Vakzination. Auch über die Durchsetzung der Pockenschutzimpfung rund um das Preußische Impfgesetz; ferner Arbeiten bis in die jüngste Vergangenheit, etwa mit der Durchsetzung der Masernimpfung in der DDR. Kulturhistorisch hingegen ist dieses Thema keineswegs gut untersucht.
Kursbuch: Was müsste man hinzufügen, um dieses Defizit auszugleichen?
King: Die kulturellen Dimensionen. Denn um 1800 gibt es noch keine institutionelle bzw. professionalisierte Medizin, sondern eine Gelehrtenmedizin; und insofern ist das Impfen automatisch auch ein kulturelles Thema. Medizinische Fragen werden unter anderem in philosophischen, gelehrten Zirkeln verhandelt; sie sind ein Thema der aufklärerischen Anthropologie. Lassen Sie uns über die Anfänge der Pockenschutzimpfung reden, genau genommen über den Entwicklungsprozess von einer hochriskanten Technik, der Variolation oder des »Blatternbelzens«, hin zur Vakzination. Das ist ein Vorgang von höchster kultureller Tragweite. Bis hin zu Goethe und Kant äußerten sich zahlreiche privilegierte Sprecher aus den gebildeten Schichten dazu. Die dazugehörigen Darstellungen, Grafiken, literarischen Texte und Medien waren äußerst populär.
Kursbuch: Es ging bei der Pockenimpfung natürlich um die Durchsetzung von Dingen, g